Gemeinsam mit Produzent Patrick Cowley hat Sylvester James den nordamerikanischen Hi-NRG-Sound definiert und damit einen dezidiert queeren Gegenentwurf zum Sound of Munich geschaffen. »You Make Me Feel (Mighty Real)« oder »Do You Wanna Funk« sind zu gleichen Teilen musikhistorische Meilensteine und zeitlose Evergreens. Dass Sylvester ein Faible für die Blues- und Jazz-Standards der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert hatte, war vielleicht zu ahnen – zu hören war es indes bisher in dieser Form noch nicht. Die Veröffentlichung von »Private Recordings, August 1970« durch das Label Dark Entries aus Sylvesters Wirkungsstätte San Francisco ist nicht weniger als eine Sensation, und das jenseits aller komplettistischen Persönlichkeitsarchäologie. Gut sieben Jahre, bevor er mit seinem selbstbetitelten Debütalbum und Songs wie »Down, Down, Down« erstmals als Disco-Diva in Erscheinung trat, nahm Sylvester gemeinsam mit Mitbewohner Peter Mintun am Piano eine Reihe von Standards wie »Big City Blues« oder »Stormy Weather« als intime Heimaufnahmen mit überraschend guter Klangqualität auf. Hin und wieder poppen die Plosive, klingen die höchsten Höhen von Sylvesters beeindruckenden Falsettgesangs verzerrt und immer wieder ist das Klicken von Mintuns Tasten zu hören – all das aber steigert nur die atmosphärische Qualität dieser Darbietungen. Wunderbar hintergründig ist zum Beispiel Mintuns eigener Gesang auf »A Foggy Day«, bevor Sylvester nah ans Mikrofon tritt und den Gesangspart übernimmt. Es gibt einige solche Momente, die rein aus den äußeren Umständen resultieren und doch die interne Dramaturgie der Performance verstärken. Mit wenigen Mitteln und einigen Makeln erschaffen die beiden eine klangliche und emotionale Tiefe, die nur die wenigsten anderen aus dem bekannten Repertoire extrapolieren können. Die Rückwärtsgewandtheit der Auswahl sowie die Begleitumstände – eine Foto-Session des Retro-Narrs Mintun mit Sylvester ist im Begleitbuch der Vinyl-Ausgabe von »Private Recordings, August 1970« dokumentiert – lässt sich scheinbar nicht mit der slicken Ästhetik späterer Sylvester-Alben vereinbaren. Und doch liegt in diesem Archivmaterial der Schlüssel zu seinem gesamten Schaffen. Es ist das wohl wichtigste und genauso schönste Reissue des Jahres.

Private Recordings August 1970