Ein Gospelalbum, dessen mit »Sinner« betitelter Eröffnungstrack einige Religiosität vermuten lässt und später mit Zeilen wie »Trust Jesus / you’ll find a friend«, »Oh Lord, I’ve waited on you« und Liedern vom Gelobten Land belegt – kann das was? Zu Zeiten der amerikanischen Rassentrennung sicher. Aber heute, in einer Welt voller harder, better, faster, stronger Internetjünger, die Selbstliebe über Nächstenliebe stellen? Die Frage nach der Aktualität von Naomi Sheltons Musik erübrigt sich spätestens beim zweiten Song ihres neuen Albums und dabei ist es nur zweitrangig, dass »Cold World« in gutem Hause – Daptone Records – geschmiedet wurde, oder dass Retro-Romantik die vergangenen Jahre prägte Zu packend ist der Groove, zu leichtfüßig die Basslinie und zu authentisch und mitreißend der Optimismus, den Sheltons raue Stimme auf »Movin’« transportiert, als dass man noch an ihrem Stil zweifeln wollte. Aufgewachsen in einer Musikerfamilie, sang die Südstaatlerin aus Midway, Alabama erst im Kirchenchor. In New Yorker Clubs wie dem Fat Cat Jazzclub und im Brooklyner Nite Cap wandte sie sich dann auch den säkularen Themen des Soul zu. Dort lernte Shelton auch den Honky-Tonk-Pianisten Cliff Driver kennen, der jetzt als musikalischer Direktor von »Cold World« für den Funk in »Thank You Lord« oder den Countryanklang in »One Day« verantwortlich zeichnet. Dazu singt Shelton mit spiritueller Überzeugung – und mit stimmgewaltiger Rückkopplung durch ihre drei Gospel Queens – von Bescheidenheit, Liebe und Zuversicht. Dein iPhone wurde geklaut? »It’s a cold cold world/ we‘ re living in«, würde Naomi Shelton augenzwinkernd sagen. Der Herr wird es schon richten – oder eben das selbstbestimmte Individuum. Einige der Songtexte schrieb Daptone-Gründer Gabriel Roth. Er riet der Sängerin auch anlässlich ihres 2009er Debüts noch »don’t tell anyone you’re 66«. Gegen ihren kernigen Soul könnte man sich aber so oder so kaum verwehren.
Cold World