Review R&B und Soul

Marvin Gaye

You’re The Man

Motown • 2019

Schwierige Sache. Man kann sich ja eigentlich nicht nicht freuen, wenn es etwas Neues vom Prince of Soul gibt, das der Öffentlichkeit bisher vorenthalten wurde. Wobei das Neue in diesem Fall insbesondere die Vinyl-Ausgabe von »You’re The Man« ist. Dazu gleich mehr. Gab ja schon einige kritische Einwände zu dieser postumen Platte, dass sie weniger ein Album als eine Ideensammlung sei. Stimmt auch. Und es stimmt, dass man irgendwie nachvollziehen kann, dass Motown zögerten, »You’re The Man« als Nachfolger von »What’s Going On« zu veröffentlichen. Einige der Botschaften sind dabei, im Titelsong etwa, noch dringlicher, der Gesang vereinzelt verzweifelter als auf der vorangegangenen Platte, beim Zusammenstellen seines Materials, dessen Großteil im Übrigen längst nach und nach auf diversen Singles und Compilations herausgekommen ist, scheint Marvin Gaye diesmal jedoch weniger auf Kohärenz als auf Ausprobieren gesetzt zu haben. Dass so ein Ansatz nicht zwingend einen weiteren Soul-Monolithen ergibt, ist Berufsrisiko. Die Songs kann man andererseits, mit etwas historischem Abstand, heute gerade in ihrer Vielfalt gut auf einer Platte zusammendenken. Das ist mitunter eine schizophrene Angelegenheit, und genau das macht »You’re The Man« so interessant. Manches knüpft stilistisch direkt an »What’s Going On« an, anderes weist auf »Let’s Get It On« voraus, hier sehr inniger Soul, da rumpeliger Funk. Und die Forderung nach einer weiblichen Präsidentin steht bei ihm mühelos neben eher rückständigen Sichtweisen zum Geschlechterverhältnis. So als hätte Marvin Gaye musikalisch die Playlist-Entwicklung dieser Tage vorweggenommen. Und inhaltlich sich von einer Idee zur nächsten gehangelt. Widerspruch inklusive.