»Im Fernsehen sah ich mal Bilder vom zerbombten Dresden. (…) Die South Bronx war wie Dresden. Und wir waren die Könige dieses Trümmerhaufens.« Benjamin »Yellow Benji« Melendez kam 1963 als Sohn puerto-ricanischer Einwanderer nach New York. Da auf den Straßen die Gangs das Sagen hatte, gründete der 14-jährige Einwanderersohn seine eigene: die Ghetto Brothers Er lernte von den besten. Wie bei den Hells Angels zierten Aufnäher die Kutten der Mitglieder. Die Gang-Insignien – drei Mülltonnen – einfach aufzumalen, erschien nicht martialisch genug. Natürlich lernte er auch von der Straße selbst, denn die Ghetto Brothers scheuten keine Auseinandersetzung, setzten aber auch auf Koalitionsabkommen. Und als Heroin die Bronx zu überschwemmen drohte, vertrieben sie die Dealer. Zu diesem Zeitpunkt zählten die Ghetto Brothers rund 2.000 Mitglieder allein in der Bronx.
Rassengrenzen spielten zunächst keine große Rolle. Vielmehr ging es um die Herkunft innerhalb der Gang-Territorien. Als es dennoch zur Spaltung zwischen Puerto-Ricanern und Afroamerikanern kam, leistete Yellow Benji Seite an Seite mit dem Black Panther-Mitglied Joseph Matumaini Aufklärungsarbeit und setzte auf Bildung und Gesundheitsversorgung. Im Gegensatz zu anderen großen Gangs etablierte er neben kampferprobten Warlords auch einen Peace Counscelor. Dieser wurde jedoch erschlagen, als er einen Waffenstillstand zwischen den Ghetto Brothers, den Mongols, den Seven Immortals und den Black Spades arrangieren wollte – und es drohte endgültig Krieg. Yellow Benji allerdings wollte Frieden und vollbrachte etwas Unerhörtes: Er berief ein Treffen mit den zwölf einflussreichsten Gangs ein. Gemeinsam beschloss man den Waffenstillstand.
Das Treffen fand am 8.12.1971 im Boys and Girls Club in der Hoe Avenue statt. Es wurde polizeilich überwacht und von zahlreichen Reportern und Sozialarbeitern begleitet – und legte den Grundstein für das, was bald darauf als Hip Hop gedeihen konnte. Die Gangs gelobten eine Abkehr von der Gewalt. Stattdessen organisierten sie eine Protestkultur und Partys: die Geburtsstunde des Hip Hop Jam. Der Warlord der Black Spades rief seine Gang zur Universal Zulu Nation aus – und wurde als Afrika Bambaataa zum berühmtesten DJ des Bronx River Projects. Auch im Westen der Bronx stiegen plötzlich angesagte Partys, initiiert vom ehemaligen Cofon Cats-Member Clive Campbell alias DJ Kool Herc.
»Ghetto Brother« zeichnet jene Geschichte nach, die den Pionierleistungen der ersten Hip Hop-Akteure vorausging – und macht insofern Benjamin Melendez selbst zu einem Hip Hop-Pionier. Man merkt, dass der in Münster geborene und in New York lebende Fotograf Julian Voloj sich für sein Comic-Szenario ausführlich mit Melendez unterhalten hat. Zeichnerisch umgesetzt mit einem krakeligen, unfertig wirkenden Strich der Illustratorin Claudia Ahlering, die mit dem Band ihr erstes Comic-Langprojekt verwirklichte, erscheint das vor Augen geführte Szenario umso intensiver. Die Bilder wirken dokumentarisch – so, als hätte jemand die Geschehnisse vor Ort mitskizziert. Da verzeiht man ihr gerne, dass die Proportionen hin und wieder nicht stimmen.
»Ghetto Brother« ist das Porträt eines Mannes, einer Stadt, einer Stimmung, einer Ära, gleichzeitig aber auch mehr als das. Er nimmt seinen Protagonisten als kompletten Menschen ernst – als Menschen, der auf der Suche nach seiner Identität ist. Und diese ist, soviel sei noch verraten, eng an das Aufspüren seiner jüdischen Wurzeln geknüpft.