Review

John Cage

Complete Song Books

Karlrecords • 2016

Reissue des Jahres 2023

Es ist bekannt, dass John Cage Schallplattenaufnahmen unnötig fand, bestenfalls uninteressant. Wohl einer der Gründe, weshalb man 42 Jahre zu warten hatte, bis seine »Song Books« von 1970 mit einer vollständigen Einspielung gewürdigt wurden. Dazu kommt, dass der größere Teil der 90 enthaltenen »Lieder« für Vokalist und (im wesentlichen verstärkende) Elektronik tatsächlich aus Theateraktionen bestehen, oder gar aus mysteriösen Statements: Schreibmaschinen, Diaprojektoren, Schuhe kommen zum Einsatz. Landkarte, Typografie, Foliengrafiken werden zu Partitur. Auch Bühnenabgänge und Rückkehr, Zubereitung und Vertilgung von Nahrung sind eben nicht nur zu hören. Aus der Idee einer Verbindung von Erik Satie und Henry David Thoreau entstand hier ein Kompendium dutzender kompositorischer Ansätze in aleatorischer Großform, das Material für einen ganzen Tag bietet. Auf zweieinhalb Stunden verdichteten Loré Lixemberg, Gregory Rose und Robert Worby es für ihre 2012er Doppel-CD in Form freier Folge und Überlagerung (wie von John Cage gedacht). Die vorliegende neue Ausgabe geht nun einen anderen Weg. Reinhold Friedl (Zeitkratzer) und Rashad Becker (nicht nur langjähriger Engineer seines Vertrauens, auch seinerseits unerschrockener Musiker) werfen für ihre 2LP den Turbo an und rauschen mit Witz und Nonchalance in einer guten Stunde von 1 bis 92 durch die drei Bücher, nehmen die beiden Vorläufer-Songs von 1958 und 1960 auch noch mit. Von den Texten bleibt nicht viel, dafür wird an Elektronik nicht gespart: Rashad Beckers vielfältige studiotechnische Speisekammer ist offen, und Reinhold Friedls Stimme weiß damit zu zaubern, ohne zu sättigen. Derart hatte das brave Vorgängerteam nicht auf dem Plan. Die beiden schaffen eine Studienausgabe der anderen Art, die im Parcours zwischen Waldbrand (#51) und Kaffeemühlenglücksrad (#28) so einiges an Rätseln zu stellen weiß. Als roter Faden können die Variationen der #1 dienen, in denen etwa Beckers geheimnisvolles »Feedback Cabinet« zum Einsatz kommt, eindrucksvoll auch in #22. Hinter all dem, was es zu erhören gibt, scheint immer wieder die Frage auf: Wie viel musikalische Substanz lässt sich in der Tat aus der Verfeinerung von Recording ziehen? Skeptiker Cage geben sie in ihrer Vertonung der »Toilettenpausen« jedenfalls noch einen extra mit auf den Weg. Mit oder ohne Partitur zur Hand eine äußerst lebendige Konserve.

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