Die Siebziger waren schon eine wilde Zeit: »Anything goes« wurde noch sehr wörtlich genommen, fantasievoll mit Leben gefüllt und neue Superlative gesucht. Im Falle von »Labyrinth« war es die »total musical experience«. Allein das Konzept, die altgriechische Legende vom Minotaurus kompositorisch in einer Art Jazz-Rock-Suite umzusetzen, würde heute wohl jeden A&R zu hysterischen Lachkrämpfen animieren oder schreiend davonlaufen lassen. Der in der damaligen britischen Jazz-Szene hoch angesehene Ian Carr meinte es aber ernst mit diesem ambitionierten Ansatz und zusammen mit seiner legendären Band Nucleus und Sängerin Norma Winstone ging es 1973 an die Umsetzung. Ähnlich wie im Theater wurden feste Rollen verteilt: Die Bassklarinette repräsentiert die Tragik, die Trompete das Heroische und die Stimme das Menschliche des Mythos, die restlichen Instrumente stehen gewissermaßen als Widersacher entweder für die Gesellschaft von Athen oder von Kreta. Trotz des verkopften Konzepts ist »Labyrinth« ein sehr körperliches, stimmungsvolles Album: melancholisch, dunkel, unheimlich – und zugleich voller musikalischer Ideen mit dem Fokus auf präsente, pointierte Beats und Grooves. Kein Wunder, dass »Labyrinth« ein Lieblingsalbum von Madlib ist, der für Quasimotos »Astro Travellin’« das sphärische »Ariadne« sampelte. Somit ist diese Reissue nicht nur etwas für Jazz-Heads, sondern auch für Crate Digger, die bisher vergeblich nach »Labyrinth« gruben.
Labyrinth