Tagesmedien diagnostiziere gerne die Entstehung einer multipolaren Welt. China, Indien, Brasilien treten alle paar Jahre von der Peripherie ins Zentrum. Doch in der Kunst vollzieht sich diese Verschiebung schon lange. Blicken wir zurück: In den 1950er-Jahren ist die Bossa Nova (dt.: Neue Welle) als Spielart des Samba entstanden. Sie ist Produkt eines post-kolonialen Selbstbewusstseins. Mit dem Erfolg des Films »Orfeu Negro« wird der Stil in den USA bekannt. 1962 ist Hideo Shiraki in den Bundesstaaten. Der Tokioter hatte Jazz während der amerikanischen Besatzung lieben gelernt. Doch auf Tour merkt der Drummer, dass seine Vorbilder für einen anderen Stil brennen. Der 29-Jährige saugt ihre Rhythmen auf, begibt sich sofort ins Studio. Er spielt den Lead-Track von »Orfeu Negro« und Latin-Standards ein. Auch ein Stück seines Idols Horace Silver ist dabei. Jener hatte »Syonara Blues« als jazzige Ode an Japan geschrieben. Shiraki nimmt es im Bossa-Nova-Stil auf. Aus der Orientierung am okzidentalen Vorbild entstehen multipolare Biotope. Später wird Shiraki zum Fahnenträger des World Jazz. Hier sind seine Stücke noch von jener Begeisterung für Neues getragen, die den Unterschied zu Kommerz nicht kennt. Doch Shirakis Elan ist mitreißend. Ein lauter Mix betont den ekstatischen Charakter der Neuen Welle. »Hideo Shiraki Plays Bossa Nova« gehört vielleicht nicht zu den Höhepunkten der Musikgeschichte. Doch Multipolarität heißt: Auch abseits des Kanons kann man eine gute Zeit haben.
Plays Bossa Nova