Review Pop

Everything But The Girl

Fuse

Virgin • 2023

Auch wenn die in letzter Zeit wieder viel gepriesenen Neunziger das musikalisch aufregendste Jahrzehnt aller Zeiten gewesen sein sollen, klingen nicht wenige ihrer Pop-Hits im Jahr 2023 abgestanden und vorhersehbar. Allein das permanente Airplay und zig blutleere Remixe aus der Retorte haben in den letzten Jahren aus einst zu Tränen rührenden Stücken nervtötendes Gedudel gemacht. Seit Tracey Thorn und Ben Watt im Sommer 1994 mit dem folkverliebten Sophisti-Pop auf »Amplified Heart« und ihrem Welterfolg »Missing« eine echte Wende in ihrer Karriere einleiteten, haben die Tränen bei ihnen nie aufgehört. Vor allem zum Todd Terry Remix von »Missing« lässt es sich nach wie vor herrlich nostalgisch schwelgen und über Vergangenes reflektieren – das paradoxe Pathos jugendlicher Romanzen findet hier auch in den neuen Zwanzigern einen berührenden Soundtrack.

Dass dem Duo in der Folge zwei höchst erfolgreiche Downtempo-Perlen mit exzellentem Songwriting in Albumlänge gelangen, sei nur am Rande erwähnt. 24 Jahre später liegt nun mit »Fuse« die nächste Kursänderung, die nächste Perle vor. Vielleicht experimenteller denn je, zeigen Everything But The Girl mit beeindruckendem Selbstbewusstsein, dass sie es immer noch verstehen, musikalische Wagnisse im Kontext warmer, organischer Kompositionen zu realisieren. Watts raffinierte Arrangements wissen tausend schmeichelnde Wege, um Thorns texturiertes Timbre zu umschmeicheln, und strotzen im Opener »Nothing Left To Loose« ebenso vor Klarheit und Zuversicht wie im spacigen Balanceakt zwischen Zeitgenössischem und Nostalgischem in »Time & Time Again« oder dem seelenvollen Rausschmeißer »Karaoke«. Vieles wird auf diesem Album versucht, fast alles gelingt.

Nicht nur, weil Ben Watt mittlerweile ein gestandener Produzent, DJ und Labelbetreiber von Buzzin‘ Fly ist, der sein Handwerk seit dreißig Jahren versteht, lebt und weiterentwickelt. Auch die Dynamik zwischen ihm und seiner Frau hat auf »Fuse« eine neue Tiefe erreicht – davon zeugt nicht zuletzt der Titel dieses Comebacks. Es ist der Beginn von etwas Neuem, dokumentiert in Songs, die auch nach zwanzig Jahren nichts von ihrer Strahlkraft verloren haben.