Review

Anna von Hausswolff

All Thoughts Fly

Southern Lord • 2020

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten… und wie das fünfte Album von Anna von Hausswolff die sich für den Nachfolger zum vielbejubelten Epos »Dead Magic« nun stimmlich vollständig zurücknimmt. Was? Ja! Wer die Musik der hochtalentierten Schwedin auf ihre mächtige Stimme reduzierte, verkannte doch ohnehin schon ab »Ceremony« die eigentlichen Qualitäten ihrer Kompositionen. Auf »All Thoughts Fly« gibt es keinen Gesang mehr, nur einen pfeifenden, dröhnenden, raunenden Orgelwind, mit dem von Hausswolff durch turmhohe Harmonien wie durch Tempelhallen unter der Erde fliegt und eine sakrale Atmosphäre beschwört, für die Mensch emotional erst einmal bereit sein muss. Episch sind die sieben Stücke allein schon durch die Klangfarben des gigantischen Instruments, das die Künstlerin im schwedischen Göteborg für dieses Album spielen durfte: Eine detailgetreue Replik der norddeutschen Barockorgel von Arp Schnitger, mit der sich atemberaubende Pitch-Effekte besonders in den Obertonregistern erzielen lassen – ohne Post-Produktion im Studio, nur mit virtuos kanalisierter Luft. Vier Mikros, zwei im Aufnahmesaal, zwei im Inneren der Orgel, bringen so selbst delikateste Hauchtöne zwischen gleißenden Klangkaskaden in ihrer ganzen Körperlichkeit zur Geltung. Oft scheint es dann, als öffneten sich allmählich Pforten zu jenseitigen Welten, deren Wirklichkeit wir erst im Moment des Todes zu begreifen wagen. So etwa im wunderschönen Intro »Theatre Of Nature« oder dem ominösen »Sacro Bosco«, das den Titel eines surrealen Skulpturengartens trägt, dem »Heiligen Wald« oder auch »Park der Ungeheuer«, welcher im 16. Jahrhundert vom Feudalherren Vicino Orsini anlässlich des Todes seiner Frau in der norditalienischen Provinz Viterbo angelegt wurde und Hauptinspiration für »All Thoughts Fly« war. Weit, weiter und immer noch weiter ufert die Musik zwischen Melancholie und Mystik in diffuse Fernen, bevor sie während des zwölfminütigen Titelstücks eine entrückende Intensität beschwört, die im zeitgenössischen Minimalismus zuletzt nur noch von Lichtgestalten wie Arvo Pärt oder Philip Glass erreicht wurde. Wolkengebirge bis in den Kosmos, Höllenkreise ohne Auswege, den Schmerz irdischen Lebens channelt Anna von Hausswolff auf diesem Album durch Rauschpfeifen und Klangkronen in die vielleicht überwältigendste Hörerfahrung ihrer bisherigen Laufbahn.