Eine Kleenex-Taschentuch-Box findet man in Situationen, denen ich bei Gott nicht beiwohnen will: Man sieht sie a) neben einem PC-Bildschirm, vor dem ein Jugendlicher sitzt und gerade bei »World Of Warcraft« pausiert, und b) auf einem Couchtisch, hinter dem eine Frau kauert, weint und schnieft, weil die Episode von »Grey‘s Anatomy« hochemotional für sie war. Diese Taschentuch-Behältnisse stehen also dafür, dass irgendwo ein scheißtrauriges Szenario abläuft. Nun befindet sich Drakes Kopf auf solch einer Box. Irgendein Tumblr-Strolch hat das Cover von Drakes neuem Album »Nothing Was The Same« auf eine Kleenex-Packung montiert. Er veranschaulicht damit, was viele denken: Drake ist eine Heulsuse und seine Musik kann nur der Soundtrack für die bittersten Stunden des Andi Möller sein. Ich sage mit leicht nasaler Stimme: Alle, die Drakes Musik als leicht verdaulichen Kuschel-Rap abtun, machen es sich zu einfach!
Gut, das Cover zu »Nothing Was The Same« ist jämmerlich. Drake sieht aus wie die Padaung-Version einer Playmobilfigur; langhalsig und zu aalglatt, um wahr zu sein, prangt sein Profil vor einem Hintergrund á la Windows 95. Mehr Zugeständnisse mache ich den plumpen Drake-Hatern aber nicht. Die sagen (sinngemäß), Drake mache Rap für Männer, die sich »menopausig« verhalten und für Frauen, die tatsächlich ihre Tage haben. »NWTS« leakte als gerade GTA V erschien und ein Tweet bringt gut auf den Punkt, was viele über Drakes Musik denken: »Ima be listening to NWTS, playing GTA. Drake gon‘ have me writing get well soon cards to pedestrains I run over«. Es gibt (selbstverständlich) einen ganzen Tumblr der sich darum dreht, wie ›soft‹ Drake doch sei.
Ich habe einige Sekunden gelacht. Vielleicht Minuten. Echt nicht mehr! Aber jetzt ergreife ich wieder Partei für Drake: Wer so denkt wie oben beschrieben, der versteht so wenig von Musik wie Birdman von Haarspülungen. »Take Care« schaffte es wie kein anderes Rap-Album 2011 eine eingängige Stimmung und zusammenhängendes Soundbild zu entwerfen. »NWTS» übertrifft diese Leistung sogar noch. Gemeinsam mit seinem Produzenten Noah »40« Shebib macht Drake echte Alben. Eine Seltenheit im Rap-Spiel. Viele Leute behaupten, Drakes Texte seien zu weich, um überhaupt noch als Rap zu gelten. Dabei erfüllt Drake eine Hauptforderung der Hip Hop-Puristen: Er keept es real. Nicht das Ich-Ticke-Crack-Und-Breche-Ins-Haus-Deiner-Oma-Ein-Real, sondern das echte Real [»the real real«, Anm. der Red.]. Real (lese: wriehl) wie in Ich-Habe-Gefühle-Und-Stehe-Dazu; der Mann hat halt manchmal Liebeskummer! Und das verkündet er auf der Rapbühne, vor der ein Publikum sitzt, deren Credo »we don‘t love dem hoes« lautet. Gott, das ist so real, mein Adamsapfel bebt, meine Hand zittert; ist kurz davor zum Kleenex zu greifen.Drake macht Alben mit der musikalischen Kohärenz alter Klassiker und dem Unterhaltungswert eines Spielfilms.
Natürlich erreicht Drakes Liebeslyrik nicht gerade die Brillanz eines Joseph von Eichendorff. Es lachen nur alle über Drake, weil sie ihn so gut nachvollziehen können. Denn genauso wenig wie einer derart on point über Croissants rappen kann wie Kanye, kann jemand so platt und doch allgemeingültig über Gefühle rappen wie Drizzy Drake. Drake wimmert, fleht und sehnt, fordert und gibt und paart das Ganze mit unfreiwilliger Komik. Zum Beispiel heißt es auf seinem neuen Album: »Don‘t treat me like a stranger, girl you know I‘ve seen you naked.« Kann man besser unterhalten werden? Wohl kaum. Drake macht Alben mit der musikalischen Kohärenz alter Klassiker und dem Unterhaltungswert eines Spielfilms. Ich bin echt gerührt davon, was Drake für Rap getan hat, wie er als zartes Pflänzchen doch wie ein Fels in der Brandung aus ultramaskulinem Trap-Rap steht. Jemand sollte Drake die Anerkennung geben, die er verdient. Und mir ein Taschentuch.