Zwölf Zehner – September 2011

04.10.2011
Willkommen im Oktober. Doch vorher lassen Florian Aigner und Paul Okraj den Monat September musikalisch Revue passieren und destillieren in ihrer Kolumne Zwölf Zehner die wichtigsten zehn Tracks des Monats.
Future Times presents
Vibe Volume 2
Future Times • 2011 • ab 19.99€
Achtung, es folgt eine verklärte Anekdote. Mitte Juli besuchte euer Kolumnisten-Duo Aigner/Okraj mal wieder ein DJ-Set dieser beiden Typen aus Washington, D.C. Die Beautiful Swimmers spielten eines ihrer bisher härtesten Sets, beständig über 120 BPM und ganz im Zeichen systematisch durchnummerierter, in den frühen Achtzigern gebauter Drumcomputer. So weit, so geil. Was aber passierte als sich dieses gequälte Vocalsample über die mit einer wissenden Lücken programmierte Bassdrum legte, um dann nach zwei Minuten in einer der unfassbarsten Synth-Spuren der letzten Jahre zu explodieren, würde jedem Summer Of Love-Klischee gerecht werden. Um euch an dieser Stelle weitere Bromance-Details zu ersparen, sei nur noch erwähnt, dass sich Aigner und Okraj – ganz Profis – direkt nach diesen viereinhalb Minuten geschworen hatten, jenen zu diesem Zeitpunkt noch unbetitelten Track eines Tages auf die Eins zu packen. Das ging, der Future Times Compilation Vibe 2 sei Dank, nun schneller als befürchtet. Und wir dachten, Legowelts Comeback Dust Remix wäre schon gut gewesen…

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Hinter mokkabraun getönten Fenstern sitzt der Boss im fetten Beamer, cruist durch die Streets und vercheckt gestrecktes Pep an Ghetto Dealer. Und da der Kofferraum gleich sechshundertsiebzig Hektoliter umfasst, bleibt Platz für jede Menge Hoes, Fitnessgeräte und Coka-Packets, die der multitaskfähige Pimp natürlich gleichzeitig bedienen kann. Was soll er denn auch machen, er ist nun mal der Beste und revolutioniert und definiert Battlerap mal wieder neu und hievt es auf eine neue Stufe. Nicht mehr, nicht weniger. Fertig aus, Micky Mouse, Nikolaus. Mit angespannten Sixpack ziert er die Men†˜s Health Titelseite, Kritik beantwortet er mit intensiven Pimpslaps (oder ballert gleich täglich rum wie Alkoholiker) und zwinkert nebenbei deiner Mutter zu, lädt sie in den Hummer zu Doktorspielen ein wie ein gewisser Guttenberg. Er kann nicht anders, schließlich war ihr Minirock knapper als Trinkwasser in Kinshasa.
An alle Realkeeper, die sich am bombastischen Beat stören und dem deutsch-kanadischen Cobrakopf fehlenden Flow konstatieren: Beim Battlerap geht es keinesfalls nur um Flows, sondern vielmehr um die drückendsten Punchlines. Diese reiht Kollegah auf Bossaura auf insgesamt 112 Bars Reihe an Reihe, überragt mit intelligenten Wortspielen/-bildern zuhauf und bedient zugleich einen stringenten Storytelling-Aufbau. Unterhaltung auf allerhöchstem Niveau, mit minimalem Aufwand, wie Disney-Zeichner.

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Rustie
Ultra Thizz
Warp • 2011 • ab 7.99€
Nach dem ersten Hören von Ultra Thizz fällt es einem wie Schuppen von den Augen, warum die heutige Jugend alles weder knorke, noch geil sondern schlichtweg laser findet. Diese fluoreszierende Synth, die hier euphorisch Beifall klatschend angekündigt wird, ist nämlich dermaßen von Halluzinogenen durchleuchtet, dass sie keine Gefangenen macht und auf der Tanzfläche Jung und Alt gleichermaßen – Vorsicht, Lieblingswort – zerberstet. Und um gleich den soziokulturellen Link zur aktuell omnipräsenten Retromania-Debatte herzustellen: Natürlich bedient sich Rustie hier den aufgeladenen Gefühlen des Glam-Metals der Achtziger und schlägt gleich mehrere Haken zu Van Halen und co. Manche mögen das Future Vintage nennen. Oder wie es gleich der knackigste Soundcloud-Kommentar des Monats auf den Punkt bringt: »Next level vintage future made from some crystaline substance from space, designed to be listened to at full bass in a Cadillac Escalade with 5 15″ speakers. Dubstep is dead. This is next level vintage future. Thanks Rustie.«

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Evidence of Dilated Peoples
Cats & Dogs
Rhymesayers • 2011 • ab 23.99€
Irgendwann zur Mitte von The Epilogue bringt es Evidence auf den Punkt: »That all depends how you break it down and chop it.« Und ohne sein aktuelles Album Cats & Dogs in irgendeiner Weise schmälern zu wollen, hat ein gewisser Christopher Edward Martin genau hingehört, die Maxime verwirklicht und dem LA-Rapper auf dem letzten Stück des Albums prompt die Show gestohlen. Dieser besinnt sich nämlich von seinem Signature-Sound der letzten Jahre zurück und erinnert an die goldenen Zeiten vor der Jahrtausendwende. Heißt: Keine wild über die MPC gestreuten Drum- und Samplepatterns, sondern ein äußerst schüchternes Drumkit, das das einfach geloopte, cineaistische Sample nach vorne scheppert. Ist das wirklich Premo? Letzte Zweifel werden spätestens mit Einsatz der obligatorischen Cuts beseitigt. »Hit em!«

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Wer sich hinter dem Pseudonym Raw Interpreter versteckt, war bei Redaktionsschluss noch nicht zu klären, aber klangästhetisch würde dessen EP Vintage Power wunderbar in das Livejam/Restoration-Umfeld passen. An den für diese Labels charakteristischen, ungehobelten Retro-House-Sounds mit wüst scheppernden, live getriggerten Drums und bösen Acid-Lines arbeitet sich der Debütant auf der A-Seite sehr gekonnt ab. Die wirkliche Sensation ist aber dann eindeutig die B-Seite, die wesentlich weniger toolig daherkommt, dafür aber mit äußerst slickem Sample-Einsatz kokettiert. Dub Surrender rekontextualisert dort einen Boogie-Track, indem er dessen monströse Bassline auf klassische House-Drumpatterns treffen lässt und mit dem lasziven Vocalsample zu spontanen Dry-Humping-Sessions einlädt. Oder, um es mit dem Mann zu sagen, über den sich die meisten vermutlich schon drei Absätze zuvor echauffiert haben: boah, das ballert, Alter!

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Dass R&B gerade wieder schwer en vogue (no pun intended) ist, dürfte euch in zwei, drei Wochen sogar das Zeit-Magazin nahe legen. Umso schöner, dass Jay Simon es nicht nötig hat, sich auf aktuelle Hipster-Kinkerlitzchen einzulassen. Stattdessen debütiert der Jungspund aus Washington, D.C. auf Kyle »The Funky Zahnspange« Halls Wild Oats Label mit einem simplen Edit des Schmonzetten-Klassikers You Used To Hold Me, der nicht den üblichen Fehler begeht und sich für seine Vokals schämt. Stattdessen stellt Simon Faith Evans‘ Lamento ins Zentrum eines schön torkelnden Midtempo-Grooves, der es unmöglich macht zu entscheiden, ob man denn nun gerade einen Uptempo Hip Hop Beat oder Slow Jam House feiert.

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Hud Mo
Pleasure EP
Pleasure Principle • 2011 • ab 13.99€
Hudson Mohawke verwandelt Janet Jacksons Hi-NRG-Dance-Pop-Single Pleasure Principle Marke 1987 (bezaubernd wie sie hier tanztechnisch ihrem großen Bruder nacheifert) in eine Hi-NRG-Dance-Pop-Single Marke 2011. Wuchtige Drums, flimmernde Synths, galoppierende Handclaps und epische Offzeiten bei treibenden 117 Beats per Minute. Ein wundersamer Remix, der gleichsam den Weg in die Zukunft ebnet und offen aufdeckt, dass es der heutigen Dancemusik allerorten an überzeugenden Vocals fehlt.

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Octo Octa
Let Me See You
100% Silk • 2011 • ab 14.99€
Auch ohne naiv zitierender Sampledelica (vergleiche den Vormonat auf der Numero 1) oder dekorativen Farbspektakel (vergleiche den Vormonat auf der Numero 3) bleibt das Label 100% Silk auch im Monat September über allem erhaben und weiß auch mit vergleichsweise biederer Kunst auf den oberen Plätzen mitzumischen. Octo Octa tritt den Beweis an und seziert auf I†˜m trying mit einem ganz kurzen Schnitt die Seele aus Amerie†˜s 1thing, bettet sie in verspielte Chords, die im Fortgang des Tracks sich ein Duell mit den Cowbells liefern und zum Schluss tranceartige Zustände erreichen. Was wohl im Oktober auf uns wartet?

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Natürlich könnten wir an dieser Stelle zum x-ten Mal den gleichen Liebesbrief an Terius Nash schreiben, ihn für seine Gabe loben mit den simpelsten lyrischen Mitteln mehr Emotionen zu transportieren als Conor Oberst und Daniel Johnston zusammen, erneut 200 geglückte Prince-Referenzen in sechs Minuten nachweisen oder hervorheben, dass Wake Me When It’s Over genau das ist, was 808s & Heartbreaks sein wollte. Oder wir machen’s kurz und sagen: Wir können (immer noch) nicht ohne ihn.

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Juk Juk
Winter Turn Spring
Text • 2011 • ab 9.99€
Wüsste man es nicht besser, könnte man Winter Turn Spring als die Quintessenz des neuen Four Tets bezeichnen. Die eigenen musikalische Vergangenheit wird mit fachmännisch sezierten Gitarrenlicks und brüchigen Vocalsamples verarbeitet, bevor ein funktionaler 2-Step die neu entdeckte Peaktime-Affinität illustriert. Wenn sich dann nach gut zweieinhalb Minuten noch eine feist bratzende Bassline Platz schafft, kann man endgültig die Killerphrase Best of all worlds aus der Plattitüden-Schublade kramen. Blöd nur, dass Four Tet Winter Turn Spring zwar via Text unter die Leute bringt, der Urheber aber auf einen gänzlich anderen Namen hört. Ein Hoch auf diese Form des Narzissmus.

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