Zwölf Zehner – Mai 2011

01.06.2011
Foto:HHV Handels GmbH
Willkommen im Juni. Doch vorher lassen Florian Aigner und Paul Okraj den Monat Mai musikalisch Revue passieren und destillieren in ihrer Kolumne Zwölf Zehner die wichtigsten zehn Tracks des Monats.
Blawan
Getting Me Down
Unknown • 2011 • ab 6.99€
»Wooden-sounding beats for the bass music guys, 4/4 pattern for the house guys, 90s R&B vocals for the ladies: anatomy of a ‚big tune‘ in 2011« – so zynisch dieser durchaus treffende Kommentar eines Resident-Advisor-Users auch gemeint war: Die Tüttelchen vor und nach Big Tune können, ja müssen, wir streichen. Natürlich ist Getting Me Down nicht Blawans Husarenstück in Sachen technischer Finesse, welche er angesichts der fast schon akademisch programmierten Vorgänger-Singles aber ohnehin bereits hinlänglich bewiesen hat. Nein, Getting Me Down ist ein Brandy-Remix mit simplem Housebeat und viel Bass. Funktional und gimmicky as fuck, aber wer will das einem Sommerhit ernsthaft vorwerfen, wenn dieser zu einer derart nachhaltigen Kolonisierung der kollektiven Gehörgänge führt? Schrecklicher letzter Satz, fantastische Single.

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Africa Hitech (Mark Pritchard & Steve Spacek)
93 Million Miles
Warp • 2011 • ab 22.99€
Wäre Mark Pritchard nicht im Laufe seines Lebens irgendwann nach Australien ausgewandert, hätte man ihn wohlmöglich auf der Mutterinsel des vereinigten Commonwealths schon vor einigen Jahren zum Ritter geadelt. Keine Spielart der elektronischen Musik, die der Mann in den letzten Jahren nicht mit beeinflusst hat. Ambient, Electronica, Hip-Hop, House. You name it. Auf seinem aktuellen mit Steve Spacek betriebenen Projekt Africa Hitech beschäftigt sich Pritchard mit seiner eigenen Definition britscher Bassmusik und setzt Dubstep in den Kontext der anderen großen ‚D’s: Detroit, Dub und Dancehall. Der Titeltrack geht dabei voran mit einem kurzgeloopten Synth, die im Laufe der folgenden sechseinhalb Minuten omnipräsent bleibt und nur leichten Modulationen unterworfen wird. Währenddessen – der folgende Ausdruck muss erlaubt sein – zerberstet die analoge Klangästhetik Rolandscher Klangerzeuger der Seriennummern 808/909 so ziemlich jeden Dancefloor und schießt wahnwitzig Rimshots und Claps um die Ecke. In der Vergangenheit liegt die Zukunft lautet ein abgedroschener Aphorismus. Mich würde es allerdings nicht weiter wundern, wenn sich fortan weitere Produzenten so deutlich auf Metroplex, Drexciya und Co. bezögen. Überragend.

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Big Strick
Detroit Heat
7 Days Entertainment • 2011 • ab 6.79€
Zur Review
Wir werden hier innerhalb unserer Kolumne nicht müde zu erwähnen, welchen Stellenwert wir der Drumprogrammierung zumessen. Das ist im Falle von Big Strick nicht anders, dessen gerade erschienenes Debütalbum Detroit Heat uns aus mehreren Gründen begeistert. Dazu später mehr. Auf Maybe1Day zischen geschlossene (Dipset-House?!) und offene Hi-Hats um die Wette, lediglich die starre Kickdrum sorgt auf der Vier für etwas Abwechslung. Lupenreiner Techno für die düsteren, industriellen Klubs dieser Welt also. Wäre da nicht der Seelenpein des Sängers Tony Coates, der sich über die gesamte fünf Minuten des Stücks legt und die maschhinelle Instrumentalisierung fortan begleitet, ehe er schließlich von einem warmen Pianoakkord gebettet wird. Techno? Mitnichten! Das ist Deep House per Definition. Ein Statement in Zeiten, in denen Deep House per se Synonym für House Music gesetzt/penetriert wird. Solcher, auch das werden wir nicht müde zu erwähnen, wie er offensichtlich nur aus Detroit kommen kann. Big Strick, big shot!

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Als Standardreferenz für Andy Stotts aktuellen Doppelpack müssen, aus Mangel an Alternativen, dieser Tage vor allem die experimentellsten Tracks von Actress herhalten. Ein Vergleich, der sich vor allem bei dem langsam anrollenden North To South absolut aufdrängt, mit dem Unterschied jedoch, dass Stott auf einem ungeheur dubbigen Fundament aufbaut, welches dazu führt, dass Stotts Tracks weniger Midi-Sci-Fi-Blasen als vielmehr Schützengräben evozieren. Musik für den GAU, körperlos und doch markerschütternd.

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Gonzales
Knight Moves
Boysnoize • 2011 • ab 7.99€
Die Labelarbeit für Pampa und deren Releaseflut um die Longplayer von Isolée, Wruhme und bald auch Ada ließ Labelchef Koze zuletzt wenig an eigene Veröffentlichungen denken. Mit dem Remix für Chilly GonzalesKnight Moves meldet er sich jetzt wieder bestens gelaunt zurück und präsentiert auf den ersten Blick eine unkonventionelle Arbeit. Lediglich drei Minuten Zeit schenkt Koze uns, bricht die Beats und kommt rasant zum Abschluss. Dafür gibt es Chops en masse, melodische Strings im Überfluss, garniert mit Filmsamples und allerlei tweakender Sounds. Vor allem der alles zusammenhaltene weibliche Vokalteppich, der mehrere Stimmlagen orchestral zusammencuttet, rührt das Herz und ruft nach mehr. Ungalant wird jedoch ausgefadet, als schiene das Teil des Konzepts und man den Rezipienten mit keinem weiteren Knall mehr zu überfordern wünschte. Der ganz normale Wahnsinn eben.

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Dass A.G.’s gediegene Delivery, die sich mittlerweile tatsächlich treffender als natürlicher Redefluss, denn Rap, bezeichnen lässt, mit den sehr reduzierten Produktion Ray Wests harmoniert bewies letztes Jahr das sträflich vernachlässigte Album Berriville. Jetzt haben sich die beiden erneut zusammengetan und dabei ein so simples wie Gänsehaut induzierendes Konzept verfolgt: Geschichten erzählen über Pianoloops. Nur A.G.’s lakonischer Vortrag über die leidende Pianofigur Wests und ein minimales Drumset. Hip Hop in geil kann so einfach sein.

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Warum Theo Parrish’s Remix für die neue Supergroup um Hot Chip-Sänger Alexis Taylor so gut ist? Zum einen, weil er so verstörend mit diesen leicht-tweakigen Frequenzen beginnt. Weil er in unnachahmlicher Weise die schüchterne Percussion Layer für Layer schichtet. Weil er die Background-Vocals als Instrumente begreift und diese als Bassspur einsetzt. Und auch, weil er in typischer Theo/Kenny-Manier in Barjazz ausartet. Und ja: Auch weil er auf Alexis Taylor verzichtet. Reicht das als Begründung?

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Tevo Howard
The Drum Machine Man
Tevo Howard • 2011 • ab 9.99€
Einen passenderen Titel hätte der Analogfetischist Tevo Howard kaum finden können. Systematic Journey arbeitet in guten fünf Minuten gewissenhaft die wichtigsten Stationen der amerikanischen House-Geschichte ab, tut dies aber so subtil und clever, dass der Track nie Gefahr läuft zur bloßen Fingerübung zu werden. Die frühen Chicagoer Tage bauen mit satten Handclaps und Rimshots Jack ein weiteres Schloss, bevor sich eine subtile Acid-Line aus dem Track herausfräst und in Detroit’schen Synthflächen aufgeht. Die herausragende Drumprogrammierung erinnert darüber hinaus noch an Shake Shakir Mitte der Neunziger. Soweit, so oft durchexerziert. Was Howard jedoch von all den zu spät berufenen Archäologen unterscheidet, ist ein tiefes, fast spirituelles Verständnis für diese Art von Musik, die einem in diesem Ausmaß wohl in die Wiege gelegt werden muss.

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Trickski
Wilderness
Suol • 2011 • ab 7.99€
Die Berliner Jungs von Trickski erzielen mit den einfachsten Mitteln die maximale Wirkung. Unendlich groß scheinen bei Wilderness die Zwischenräume um die einzelnen Drums zu sein. Die chirurgisch-exakt sezierte Hi-Hat erklingt irgendwo dazwischen, während sich bedächtig im Hintergrund der Groove – einen Hauch über der magischen 100-BPM-Hürde – aufbaut. Ähnlich wie bereits auf ihrem letzjährigen Konsenshit Pill Collins unterbricht ein unerwartetes Sample (hier in Gestalt eines folkigen Vocalsamples) den Groove, sorgt für Verwirrung, Entzückung und Endorphinausstoß zur gleichen Zeit, verschwindet genauso plätzlich wieder und nimmt von vorne neue Fahrt auf.

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Wem James Blake auf seinem Albumdebüt zu weinerlich wurde, wer die Chillwaver zu dilettantisch und Burial zu schnell findet: es naht Hilfe und zwar in Form des Mancherster Lads Holy Other. Der verbindet auf Touch nämlich auf sehr beeindruckende Art und Weise Burials ätherische Vocal-Pitch-Techniken mit pathetischem Zeitlupen-2Step, Magengrummel-Bass, dezenter 8Bit-Fiepsereien und einem mittigen Breakdown für den es sich zu sterben lohnen würde.

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