Boards of Canada schaffen es, auch nach fast 30 Jahren ein Mysterium zu bleiben. Abgesehen von den biografischen Unklarheiten haben die Fans seit Jahren ihre Freude daran, all die Easter Eggs und teils irritierenden Referenzen zu finden, die Boards of Canada in einer traumnebligen Patina aus Nostalgie, Dystopie und post-futuristischem Hoffnungsschimmer verschleiern. Dabei hilft den beiden Produzenten und Brüdern Marcus Eoin und Michael Sandison regelmäßig die Mathematik.
Die Faszination für mathematische Muster und speziell für Numerologie begleitet Boards of Canada ganz grundlegend. Wie Eoin 2002 im Interview mit dem NME erklärte, bilden für sie Mathematik und Muster das Fundament für quasi alles. Und auch wenn beide klarstellten, dass sie ihre Musik viel natürlicher komponieren (und weniger nach strikten mathematischen Modellen), als manche denken mögen, sind Zahlenspiele und mathematische Muster seit 1994 ein fester Bestandteil ihrer Formwelt. Die folgenden Beispiele sind nur ein Ausschnitt dessen.
Die kleinste seltsame Zahl
Boards of Canada nannten ihr eigenes Label, auf dem 1994 ihre ersten Tapes erschienen, Music70. Die Zahl 70 gilt als kleinste seltsame Zahl. Diese obskure Zahlenkategorie definiert natürliche Zahlen, deren Teiler (für 70 sind das 1, 2, 5, 7, 10, 14, 35) sich zu einer Summe aufaddieren, die größer ist als die seltsame Zahl. Zusätzlich existiert auch keine Teilsumme dieser Teiler, welche die seltsame Zahl ergibt. In einzelnen Sprachen, insbesondere solche mit vigesimalen Zahlensystemen, gibt es auch kein spezifisches Wort für die Zahl 70.
Im Französischen wird die Zahl beispielsweise als »sechzig-zehn« (soixante-dix) benannt, was in Boards of Canadas Musik wiederholt in Form von Voice-Samples und Titeln wie »Sixty-ten« aufgegriffen wird. Der Track mit dem programmatischen Titel »The Smallest Weird Number« vom Album »Geogaddi« geht zwar 87 Sekunden, jedoch wird die Melodie abrupt nach genau 70 Sekunden in den Echoraum geschickt.
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Eine weitere Zahl, die sich bei Boards Of Canada durchgehend wiederfindet ist die Zahl 6, oft in der Kombination mit 9 als 69, gewissermaßen zwei umeinander rotierende Sechsen. Die 6 ist nicht nur in Religionen und Mythologien von besonderer Bedeutung. Auch in der Mathematik gilt sie als einzigartig. Sie ist die einzige Zahl, deren Summe (1+2+3) gleich ihrem Produkt (1x2x3) ist. Eine besondere geometrische Form, die sich aus der Zahl 6 ergibt, ist das Hexagon, welches bei Boards of Canada nicht nur Songtitel und das Artwork ziert. Auch ihr Studio trägt den ominösen Namen Hexagon Sun.
Der Teufel steckt im Detail
Bis auf das (verhältnismäßig) naturalistische Album »The Campire Headphase« von 2005 haben Boards of Canada mit Vorliebe mehr oder weniger kleine Easter Eggs in ihren Werken versteckt. Ihr Album »Geogaddi« von 2002 war dermaßen mit Referenzen an verschiedene okkultistische Strömungen übersät, dass es von einigen guten Christ*innen sogar als Teufelswerk angeprangert wurde. Nicht nur finden sich auf dem Album verschiedene, zumeist stark verfremdete Voice-Samples, die auf einen gehörnten Gott oder die Sekte The Branch Davidians verweisen.
Das CD-Album kommt auch auf eine Laufzeit von 66:06 Minuten und ergibt als mp3 kodiert ganze 666 MB, die Zahl des Teufels. Vermutlich haben Boards of Canada allein für diesen Prank das letzte Stück »The Magic Window« auf dem Album untergebracht. Der Track besteht aus 112 Sekunden Stille, ist aber essenziell, um die Laufzeit des Albums zu erreichen. Zudem kommt »Geogaddi« damit auf exakt 23 Titel, einer heiligen Zahl für jede*n ernst zu nehmende*n Okkultist*in.
Auch auf struktureller und kompositorischer Ebene finden sich bei Boards of Canada verschiedene mathematische Referenzen und Modelle, die den Mikrokosmos der Melodieführung genauso beeinflussen wie den Makrokosmos des gesamten Albums.
Der auf dem Album enthaltende Song »1969« kommt gleich mit einem ganzen Paket an Querverweisen und Easter Eggs. Abgesehen davon, dass der Track die richtigen Zahlen aufweist, ist 1969 das Jahr der berüchtigten Charles Manson Morde, aber auch des massiven Einsatzes von CS-Gas bei den Bloody Thursday Events in den USA. Dieses Gas kam wiederum 1993 bei der Waco Belagerung zum Einsatz, bei dem die apokalyptische Sekte The Branch Davidians durch das FBI »aufgelöst« wurde, deren Anhänger*innen in dem Stück mehrfach zu Wort kommen. Das Ende der Sekte wird auf den 19.4. datiert. Der Track »1969« ist genau 4 Minuten und 19 Sekunden lang. Ein Schelm, wer Böses denkt.
Musik als goldener Schnitt
Auch auf struktureller und kompositorischer Ebene finden sich bei Boards of Canada verschiedene mathematische Referenzen und Modelle, die den Mikrokosmos der Melodieführung genauso beeinflussen wie den Makrokosmos des gesamten Albums. Wiederholt nutzten sie das Fibonacci-Pattern, um Melodiebögen zu schreiben, so zum Beispiel in »Color of Fire« und »The Devil Is In The Details«.
Die Zahlenfolge steht in engem Zusammenhang mit der Golden Ratio (1,618) bzw. dem Goldenen Schnitt, den Boards of Canada teilweise mit kleinen Details auf ihre ganzen Alben anwendeten. So schiebt auf dem Album »Music Has The Right To Children« (1998) nach genau 43:46 Minuten (Ratio 1:1,618 zur Gesamtlänge des Albums) eine Frauenstimme das Farbwort »Orange« in ihre lange Aufzählung von Ziffern. Beim Folgealbum »Geogaddi« erscheint an derselben Stelle (nach 38:19 Minuten) das Farbwort »Yellow«.
Im Spiegelsaal
Mit Vorliebe nutzen Boards of Canada auch Palindrome – Strukturen, die vorwärts wie rückwärts identisch sind. Diese Spiegelbild-Kompositionen haben dazu geführt, dass »Geogaddi« selbst rückwärts gespielt gut funktioniert. Auf dem Album finden sich mit »Music Is Math«, »Over The Horizon Radar« und »Corsair« gleich mehrere Stücke, die einem Palindrom folgen. Und auf dem ebenfalls auf »Geogaddi« enthaltenen Stück »A Is To B As B Is To C« (was auf die Golden Ratio verweist) schaffen Boards of Canada die wohl seltsamste und »most spooky« Sample-Bearbeitung, wenn aus dem Voice-Sample »All we love you« rückwärts gespielt ein klares »We love you all« wird.
Mit ihrem letzten Album »Tomorrow’s Harvest« von 2013 haben Marcus Eoin und Michael Sandison diese Spiegelsaal-Ästhetik dann auf Albumlänge konzeptionell ausgebreitet. Nicht nur ist das zentrale Stück »Collapse« in sich ein Palindrom. Aus ihm heraus spiegelt sich auch der Rest des Album nach vorn und hinten. So ist der vorletzte Titel »Come to Dust« eine Reprise des zweiten Titels »Reach for the Dead«. Insgesamt spiegelt das Album den hin und her pendelnden Prozess der Zerstörung und Neuentstehung, aus der wiederum der nächste Zerstörungszyklus hervorgeht.
Das letzte Stück des Albums heißt entsprechend »Semena Mertvykh« (russisch für »Seeds Of The Dead«). In einem Interview mit The Guardian erklärten Boards of Canada, dass »Tomorrow’s Harvest« die bislang höchste Dichte an versteckten Easter Eggs aufweist. Bislang wartet die Mehrzahl dieser noch darauf, ans Tageslicht gezogen zu werden.