Wie der Jazzer Sam Gendel sein Saxofon kurzschließt

13.02.2023
Foto:© Leaving Records
Sam Gendel benutzt sein Saxofon anders als die meisten. Mit Processing-Techniken und Harmonisierungseffekten lässt er es Purzelbäume schlagen und stellt damit den Jazz kurzerhand auf den Kopf. Nun erscheinen weitere Alben des Kaliforniers.

»Ich mache das, weil ich eine Idee für eine Platte habe. Und ich fühle meine Musik. Ich kann nur hoffen, dass sie den Leuten gefällt«, erklärt mir der in Los Angeles lebende Musiker Sam Gendel vor zwei Jahren, warum man bei ihm nie genau weiß, was als nächstes kommt. Ja, Gendel ist sicher niemand, der sich mit Businessplänen oder Elevator Pitches bei Label A&Rs aufhält.

Das Einzige, worauf der etwas schrullige Saxofonist, Gitarrist und Hornist – ich glaube, man nennt es heute schlicht Multiinstrumentalist – tatsächlich hört, ist »sein Gefühl«. Diese Sensibilität ist auch die Basis seines Erfolges, der sich in den letzten fünf Jahren eingestellt hat und ihn zu einem tänzelnden Leuchtturmprojekt eines neuen, weirden Jazz gemacht hat.

Auto-Tune fürs Saxofon

Nach Jahren als Sessionmusiker, unter anderem für die Band Inc., beschloss Sam Gendel um 2017, keine Kompromisse mehr einzugehen. Inspiriert von diversen Processing-Techniken und Harmonisierungseffekten, die im amerikanischen Cloud-Rap und Trap mittlerweile gang und gäbe waren, schloss er sein Saxofon »kurz« und lässt es seitdem immer wieder Schlieren ziehen, leiern und Purzelbäume schlagen.

Was Auto-Tune für die Stimmen der Rapper auf der ganzen Welt wurde, konnte nun auch für andere Instrumente genutzt werden. Das Ergebnis: Plötzlich wurde der Jazz aus Gendels Instrumenten quecksilbrig fluid. In Anlehnung an die Blue Notes, die dem Blues seinen Namen gaben, könnte man diese flüssigen Noten einfach in Lila tauchen: Purple Notes.

Bis die Noten wieder lila sind

Doch diese klangliche Besonderheit, die man mittlerweile auch bei europäischen Kollegen wie Otis Sandsjö findet, ist nicht der unique selling point des Musikers. Seine Hauptantriebsfeder bleibt eben jenes Gefühl, das ihn immer wieder – sagen wir mal vorsichtig – unpopuläre Entscheidungen treffen lässt. Nach einem Underground-Erfolgsalbum auf dem von Matthewdavid geführten Label Leaving (»Pass If Music«, 2018) ließ sich Sam Gendel zwei Jahre Zeit, um mit »Satin Doll« auf dem sehr viel größeren Label Nonesuch seinen Durchbruch zu feiern. Die Presse war sich einig in ihrer Begeisterung: »So frisch hat Jazz lange nicht mehr geklungen«.

»Ich mache das, weil ich eine Idee für eine Platte habe. Und ich fühle meine Musik. Ich kann nur hoffen, dass es den Leuten gefällt.«

Sam Gendel

Dreizehn herausragende Versionen voll wahnwitziger Spielfreude und technischer Progressivität (Stichwort: purple notes) ließen sowohl konservative Gemüter als auch Jazz-Jungspunde große Augen machen.

Was lag also näher, als dieses Erfolgsrezept zu wiederholen? In der Welt von Sam Gendel ein undenkbarer Gedanke. Stattdessen realisierte er nur wenige Monate später das Album »DRM«, das auf einer alten Drum-Machine basierte. »Ich kam mit nicht mehr als fünf Knöpfen und einem Schalter aus«, erklärte er mir damals. Reduktion statt Größenwahn.

Sam Gendel am Saxofon (Foto: Marcella Cytrynowicz © Nonesuch)

Im Duo ist man weniger allein

Erfreulich anders tickt dieser Sam Gendel, der sich immer wieder als Getriebener seines Einfallsreichtums erweist – und so die Flut an neuem Material nicht abebben lässt. Au contraire: Allein 2021 erschienen sechs weitere Alben. Darunter auch das lang erwartete zweite Album des Duos mit Sam Wilkes: Ihr 2018 erschienenes Debüt »Music For Saxofone And Bass Guitar« ist an smoother Eleganz kaum zu überbieten. Mit Anklängen an den Sound der Westcoast-Beatszene um Künstler wie Mndsgn, an die Produktionen des Londoner Pranksters Dean Blunt, an den Chicagoer Produzenten Makaya McCraven gelingt eine avantgardistische Popplatte, die ihresgleichen sucht.

Doch ein anderes Duo bringt die Quintessenz dessen, was Sam Gendel zu einem besonderen Musiker macht, noch besser auf den Punkt: »Live A Little«, ebenfalls eine Veröffentlichung aus dem Jahr 2021, aufgenommen mit Antonia Cytrynowicz. »Mit wem?«, fragen sich Nerds und Laien gleichermaßen. Dahinter verbirgt sich die damals elfjährige Schwester seiner Lebensgefährtin Marcella Cytrynowicz, einer Filmemacherin aus Los Angeles. Die ungeschulte und ungeübte Stimme des Mädchens, die dennoch von Liebe und Nähe, von Sehnsucht und Herzschmerz zu singen vermag, greift hier Hand in Hand in den Instrumentenpark, den Sam Gendel bedient. Eine der eigenwilligsten Platten der letzten Jahre – und ein Diamant.

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Und auch in diesem Frühjahr sind wieder einige neue Platten von ihm angekündigt: »SUPERSTORE« erscheint endlich auf Vinyl, ebenso wie »blueblue« (beide: Leaving Records). Außerdem ist mit »Cookup« auf Nonesuch ein weiteres Album angekündigt, diesmal ausschließlich mit Coverversionen bekannter R&B- und Rap-Songs. Man darf gespannt sein, denn nur eines ist sicher: Sam Gendel gefällt es, das sagt ihm sein Gefühl.