Bei seiner Familie hätte Tricky eigentlich Gangsterboss werden müssen. Dem Ghetto zum Trotz konnte Adrian Thaws Künstler werden. Tricky Kid ist mittlerweile vierzig Jahre alt und dabei immer noch ein richtiges Straßenkind. Ein paar Jahre hat er es mal mit dem amerikanischen Landleben bei New York probiert. Doch vergebens, die Straße ist in ihm. Seine Ausflüge in die Bronx zu seinen jamaikanischen Cousins wurden immer häufiger. Nach einem Aufenthalt in Los Angeles war es vorbei mit der East Coast Idylle. Er blieb dort und lebt dort noch heute, atmet Ghettoflavour und hängt mit Chicanos an Straßenecken ab. Trickys Geschichte verrät viel über ihn: Vater unbekannt, Mutter bringt sich um als er noch ein kleiner Junge ist, viele seiner Verwandten sitzen im Gefängnis. Seine eigene Vergangenheit in Bristol, empfindet Adrian als Spaziergang im Gegensatz zu dem, was Englands Jugend heute erwartet. Vielleicht macht Tricky aus einer Not eine Tugend, wenn er sich zum weißen Ghetto Knowle West im Südosten der englischen Hafenstadt bekennt? Tricky ist jedenfalls stolz auf seine Herkunft. Vor allem, weil es dort nicht vorgesehen ist, weg zu kommen – schon gar nicht bis nach Los Angeles.
Das neue Album »Knowle West Boy« ist wieder mal melancholisch und verstörend geworden. Ein typisches Tricky-Album eigentlich…
Tricky: Schön, dass du es bemerkt hast. Bisher sagt die Presse, dies sei mein »Happy«-Album, mein Pop-Album, ein kommerzieller Versuch. Eine Frechheit! Ich mache keine Happy-Pop-Alben. In meiner Musik gibt es immer eine gewisse Dunkelheit. Aufgrund, meiner Kindheit, meiner Vergangenheit, meines Lebens überhaupt, ist es mir gar nicht anders möglich. Ich sah meine Mutter in einem Sarg, da war ich vier Jahre alt. Mein Onkel wurde getötet, andere brachten sich um. Stets war ich von Gewalt umgeben. Dort, wo ich her komme, wirkte alles sehr düster, und das ist auch immer Teil meiner Musik. Es ist mir unverständlich, dass das keiner hört.
Gibt es überhaupt die Möglichkeit so eine Vergangenheit zu überwinden? Fühlst du dich heute wieder stärker mit deinen Wurzeln verbunden?
Es war nicht schwer dieses Leben zu leben. Wenn du es selbst lebst, nimmst du es erstmal gar nicht war. Mir ist viel Mist passiert, doch ich hatte auch ebenso viel Glück. So gesehen habe ich ein großartiges Leben, mehr als ich erwarten konnte.
Wer heutzutage jung ist, hat es sehr viel schwerer! Das Leben ist zu verrückt geworden. Wäre ich heute ein junger Mann, würde ich es nicht packen: zuviel »gun culture«. Gerade gestern hatte ich einen intensiven Eindruck auf meinem dreißigminütigen Fußweg. Kids mit Waffen, auf Fahrrädern, mit Pittbulls – man fühlt die Spannung in der Luft. Als ich aufgewachsen bin, hatte man wenigstens noch Respekt vor dem Alter. Kinder sollen doch Spaß haben und nicht soviel Verantwortung tragen. Der Albumtitel »Knowle West Boy« verweist nicht auf meine Vergangenheit. Ich bin nur stolz darauf, denn man soll eigentlich nicht aus dem Ghetto rauskommen oder etwas werden. Wenn ich mich in der Musikindustrie umschaue, sehe ich nur wenige mit einer ähnlichen Herkunft. Früher gab es mehr von uns, so kommt es mir zumindest vor. Ich bin froh, dass ich nicht auf eine berühmte Universität gegangen bin und so ein upper class boy geworden bin. Dann würde ich jetzt wohl auch so Nichts-sagenden Mist wie Coldplay verbreiten.
Warum wird Bernard Butler, der ehemalige Gitarrist von Suede, bei den Credits des Albums erwähnt?
Er ist ein Depp, so ein Yuppie-Kind. Er ist auch ein großartiger Gitarrist und ich sollte Songs mit ihm schreiben. Mein Label hatte da was angeleiert. Also ging ich zu ihm ins Studio, um mich mit ihm zu treffen und danach wusste ich: Er ist ein Arschloch. Ich mochte auch nicht was wir produziert hatten. So machte ich alles noch einmal. Er wollte trotzdem die Credits und hat uns verklagt. Wir haben schließlich nachgegeben, denn das Album sollte schon vor einem halben Jahr draußen sein. Wir waren müde durchs Kämpfen, deshalb ist sein Name erwähnt, obwohl er nicht auf der Platte zu hören ist.
»In meiner Musik gibt es immer eine gewisse Dunkelheit. Aufgrund, meiner Kindheit, meiner Vergangenheit, meines Lebens überhaupt, ist es mir gar nicht anders möglich. «
Tricky
Und wie steht’s um Switch: Hat der etwas zum Album beigetragen?
Er ist ein guter Typ und ein guter Mixer. Aber er ist kein Co- Produzent, nur weil er auch produziert. Er hat Sound-Effekt- Sachen für mich gemacht. Ich finde sein Mixing gut, nicht seine Produktion. Dies ist eine typische Tricky-Produktion, keine typische Switch-Produktion.
Ist das deine Familie auf der Rückseite des Artworks?
Ja! Der mit der Zigarre ist der Vater meiner Großmutter; der sitzende der seinen Kopf der Frau zuwendet, ist mein Onkel Martin, er schaut zu meiner Tante Olive. Beide leben noch. Der andere, der da steht ist Onkel Arthur. Links außen ist Martins Frau, sie ist tot. Sie sind bekannte Kriminelle. Einer von ihnen ist auch auf »Product Of The Environment«, eine Platte mit Gangster-Interviews die ich 1999 gemacht habe.
Freut sich deine Großmutter über deinen Erfolg? Siehst du sie oft?
Meine Großmutter ist nicht so interessiert an dem was ich tue, denn sie hatte ein verdammt hartes Leben: den einen Bruder für dreißig Jahre ans Gefängnis verloren, einen anderen für fünfzehn Jahre, ein Sohn ermordet, eine Tochter gestorben…
Vieles deutet darauf hin, dass es Trickys bewusste Entscheidung war, weder seine Wirkung auf Frauen noch die Vorzüge seiner Karriere zu nutzen, um in eine höhere oder gesündere Gesellschaftsschicht aufzusteigen. Knowle West hat sich in sein Herz tätowiert, sitzt ihm in den Knochen. Adrian bleibt, wer er ist. Der Junge aus der Gangsterfamilie. Tricky spricht die Sprache der Straße, aber auf eine verzauberte Art und Weise. Wenn Tricky Musik macht, schweigt Adrian und jemand anderes spricht. Woher kommen diese Texte? Spricht hier dieser raue Knowle West Boy? Tricky betont immer wieder, dass seine Texte aus weiblicher Sicht geschrieben sind, weshalb er auch Sängerinnen braucht. Einigen Sängerinnen hat er das Herz gebrochen, denn da war nichts zu holen; ein Brunnen ohne Wasser. Aus verschiedenen Gründen ist seine Tochter ein Tabu-Thema. In seiner Musik wächst er über die geistigen und emotionalen Grenzen der Elendsviertel hinaus. Dieser atmosphärische Sound, den man zu seinem Entsetzen Trip-Hop nannte, ist so feinfühlig, dass man hier nicht das Ghetto vermutet. Wenn man aber genau hinhört, egal bei welchem Album, dann hört man auch das verzauberte Echo von Knowle West. Gemalt in den süßesten und düstersten Farben.
Du bewunderst Kate Bush und PJ Harvey. Du hast immer mit Sängerinnen zusammen gearbeitet. Auch bei diesem Album. Warum?
Weil ich aus der weiblichen Perspektive schreibe. Wenn man sich die Songs und die Texte anhört, dann bemerkt man das. Das sind nicht die Worte eines Mannes. Deshalb brauche ich Frauen, die singen und das verdeutlichen. Leider kann ich nicht singen. Ich liebe es mit verschiedenen Sängerinnen zu arbeiten. Auf dieser Platte singen auch mehrere Frauen, wie meine französisch-marokkanische Ex-Freundin Lubna oder Alex Mills aus England.
Worum geht es bei »Cross to Bear«?
Der Song handelt von der letzten Versuchung Christi, allerdings aus dessen eigener Perspektive, also mit einem anderen Blickwinkel. Er ist wahnsinnig verliebt in diese Frau und möchte mit ihr Kinder haben. Er will nicht am Kreuz sterben! Doch sein Vater verlangt das von ihm. Er will mit ihr abhauen und fragt sie, ob sie mit ihm gehen würde.
Bist du gerne »weit weg«?
Ja, ich betäube mich gerne, denn das Leben ist so deprimierend. Ich versuche dann abzutauchen und tue so, als wäre alles in Ordnung. Deshalb der Song »Far Away«.
»Past Mistake« ist beängstigend. Du erwähntest, die Sängerin sei eine Ex-Freundin von dir… Was war bisher deine gesündeste Beziehung?
Eine gute, gesunde Beziehung ist schon mal eine ohne mich. Das ist Fakt! Wenn ich Frauen treffe, frage ich mich oft, ob sie fühlen und verstehen können, dass ich nie eine Mutter hatte. Trotzdem mögen sie mich, verlieben sich in mich, doch nach ein paar Monaten haben sich ihre Gefühle mehr entwickelt als meine. Sie suchen nach mir, rufen mich an…
Ich rufe dann immer seltener zurück und irgendwann hört man nichts mehr von mir. Dann bin ich weg und verschwunden. Deshalb habe ich vielen Frauen wehgetan. Ein Musiker zu sein, der viel unterwegs ist, macht das ganze nicht leichter, im Gegenteil. Wenn es für mich eine perfekte Beziehung geben könnte, dann nur in der Vergangenheit, als ich noch rein war. Bevor man weiß, was Lügen und Betrügen bedeutet und sich schlechte Angewohnheiten zulegt. Dann, wenn du noch nicht total kompromittiert bist. So mit dreizehn Jahren vielleicht.
»Wenn man sich die Songs und die Texte anhört, dann bemerkt man das. Das sind nicht die Worte eines Mannes.«
Tricky
Sagst du den Mädchen, woran sie sind, oder ziehst du deinen Vorteil aus der Situation?
Anfangs denke ich noch, es wird nicht wieder passieren, denn in mich kann man sich ja nicht verlieben. Meine Persönlichkeit lädt einfach nicht dazu ein! Ich lebe in meiner kleinen eigenen Welt und manchmal bemerke ich gar nicht, wenn meine Freundin im Raum ist. Ich bin dann woanders.
Aber steht das nicht im Widerspruch zu deinen Texten aus derweiblichen Perspektive?
Die beiden Dinge haben nichts miteinander zu tun. Texte schreiben und jemandem Aufmerksamkeit geben, sind zwei verschiedene Welten. Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen. Ich bin nur ein Kanal, durch den das fließt. Das habe ich wohl von meiner Mutter. Auf meiner ersten Single »Aftermath« aus dem Jahre 1991 sage ich die Worte: »Your eyes resemble mine / you see as no others can«. Über wen spreche ich denn da? Ich hatte ja noch keine Kinder… Da spricht meine Mutter!
Trickys Stimme wirkt wie ein Spiegel seiner Seele. Seine Erlebnisse und Erfahrungen stecken in diesem Timbre. Mit dem Label Brown Punk, das er vergangenes Jahr mit dem Island-Gründer Chris Blackwell wiederbelebte, versucht er Jungs von der Straße eine Chance zu geben. Auf einer Farm in Frankreich möchte er bald Jugendlichen aus Europa das Musikmachen beibringen. Für »Knowle West Boy« wollte er Texte schreiben, die auch im Ghetto etwas bedeuten, die Referenzen und Problematiken aufgreifen. Gleichzeitig wollte er sich eigene Träume erfüllen, indem er einen Song schreibt, als wäre er für ein Duett mit Tom Waits. Ein anderer klingt hingegen nach seiner Lieblingsband The Specials. Und nur wenig später schlüpft er in die Rolle eines Hardcore-Rappers. Um all das zu entdecken muss der Hörer viel Aufmerksamkeit in die doppeldeutigen Texte investieren. Trickys Lyrik unterscheidet sich erheblich von Adrians alltäglichem Sprachgebrauch. Während Adrian nicht immer aufrichtig sein muss, kann Tricky nicht anders als auf eine subtile Art Wahrheit zu spiegeln.
Vor zehn Jahren hast du mal eine gewisse Zeit in New Orleans verbracht. Was hast du gedacht, nachdem der Hurricane »Katrina« im Jahre 2005 über die Stadt gefegt ist?
Ich fühlte mich zurück ins 18. Jahrhundert versetzt! Wie kann so was heute noch passieren? Juvenile hat einen super Track und Video dazu gemacht. Was bleibt denen denn außer Drogen zu verkaufen? Die Ghetto Kids werden das verstehen. Für manche hat Amerika nicht mehr zu bieten. Das hat nicht nur mit Rasse, sondern auch mit Klasse zu tun. Seit ich nach Amerika kam, weiß ich was Rassismus bedeutet. Solange es nur die Armen betrifft, ist es kein Problem, denn sie zählen nicht. Es ist überall das gleiche, wenn du nichts hast, dann bist du gefickt.
Man könnte etwas für die Kinder tun. Das ganze Geld, das in Krieg und Drogen gesteckt wird, muss irgendwie zurück in die Bezirke und der Kultur und Jugend-Förderung zugute kommen. Wir brauchen Schulen und – das ist das Wichtigste– Bildung. Die Kinder brauchen Möglichkeiten, um kreativ zu sein und zwar möglichst früh. Das Geld, das an Sicherheitskräften, im Gefängnis oder im Niedriglohnsektor erwirtschaftet wird, das verdient doch auch jemand. Es gibt ein hohes Interesse am Bestehen der Armut. Das müsste sich ändern!
Wie ist das Verhältnis zu deiner Tochter?
Das geht dich nichts an. Ich spreche nicht über sie. Warum willst du das wissen?
Auf »School Gates« geht es um ein 15-jähriges Mädchen, das schwanger ist. Warum ist dir das Thema wichtig?
Ich halte nichts davon, wenn Kinder Kinder bekommen. Es geht um all diese namenlosen Mädchen in so einer Situation, in denen die Kinder dann aufwachsen. Deshalb betone ich immer Bildung. Sexuelle Aufklärung, aber vor allem Aufklärung über das Leben selbst ist nötig. Wenn du im Alter von 16 Jahren Mutter wirst, ist die Chance nicht gerade groß, dass du einen guten Job bekommen wirst. Eher bekommst du keinen. Dabei recyclest du den Lebensstil deiner Eltern und programmierst damit den deiner Kinder vor.
Wolltest du denn selbst Vater werden?
Ich weiß nicht, ich habe noch nicht drüber nachgedacht. Aber ich muss jetzt leider Schluss machen.