Die Reissues, die Time Capsule veröffentlichen, sind »mit kosmischer Liebe versiegelt«. Das sind nicht die Worte von Kay Suzuki, dem Mann hinter dem Projekt, sondern jene Zeilen, die Jazzpianist Weldon Irvines Album »Time Capsule« (1973) vorangestellt sind. Einen Auszug zitiert die Homepage des Labels, das erst diesen Sommer loslegte und nun seine ersten Platten veröffentlicht. Reissues als zeitreisende Kapseln? Schon Suzukis Whatsapp-Profilzeile verrät, dass für ihn Zeit mehr ist als eine physikalische Größe. »The Space between the beats define our time«, steht da. Was aber soll das heißen?
Für die Antwort muss man ein paar Jahrzehnte zurück und in Gedanken nach Japan reisen, genauer in die Heimatstadt Suzukis, einem Vorort Tokios in der Präfektur Ibaraki. Während die Kids Goth-Pop hörten, feierte er Soul und Rock. Kay Suzuki fragte sich lange, warum ihn ausgerechnet der Sound der Afroamerikaner am meisten bewegt, bald kam er dahinter. »Dieser Moment zwischen Kickdrum und Snare«, Suzuki beatboxt ins Telefon, was er meint, »dieser Raum steht für ein bestimmtes Bewusstsein und reflektiert die Gefühle zu genau jener Zeit, an jenem Ort.« Keine gefällige Abfolge von Stille und Klang sondern Rhythmus mit Bedeutung. Auf der Suche nach dem eigenen Sound wanderte Suzuki 2004 aus, aber nicht in die Heimat seiner Jugendhelden, sondern nach London. Denn Drum’n’Bass, Dubstep, all die karibisch-afrikanisch inspirierten neuen Stile standen für das, was er »time art« nennt: in Beats gegossenes, von der Umgebung inspiriertes Bewusstsein.
Im Umfeld von Kay Suzuki trieben damals Belle Bête und Cedric Woo umher, zwei Plattensammler und DJs, die widerum eng mit Loft-Party-Erfinder David Mancuso verbandelt waren und 2005 (mit einem Dritten) die Partyreihe »Beauty & The Beat« (BATB) gründeten. Heute sind sie Time Capsules Kuratoren. Damals schleppten sie ihr hochwertiges Soundsystem von Location zu Location, bevor sie beschlossen, die Anlage dauerhaft zu installieren, um eine sicheren Hafen für ihre Sessions zu haben. Fündig wurden sie an der Kingsland Road in Hackney. Suzuki kannte inzwischen Gegend und Leute und wusste, was fehlte. »Ein Sushi-Restaurant wäre perfekt hier!« platzte es aus dem Producer heraus, als ihm seine Freunde ihre Räumlichkeiten zeigten.
Den Plan vom Vollzeit-Musiker legte er vorerst auf Eis, denn die Theorie der time art praktisch umzusetzen, war doch schwerer als gedacht. Eine Ayuasca-Zeremonie wies Suzuki 2011 den Weg. »Diese Erfahrung dröselt dein Ego auf«, erklärt er. »Von Beruf Künstler sein, damit Geld verdienen – solche Ideen waren danach verschwunden.« Übrig blieb die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt und in Liebe verbunden sei: »Ich glaube, Musik ist der Schlüssel, um das Universum zu verstehen.« Fortan ging es dem Producer um die »magische Erfahrungen, die Künstler uns geben.« Auch das Restaurant, das er mit seinen Freunden 2013 eröffnete, sollte ein Schauplatz dafür sein. Sie benannten es nach dem Thelonious Monk-Album »Brilliant Corners«, wechselnde DJs bringen seither das audiophile System zum Klingen.
»Alles entwickelte sich sehr organisch«, erinnert sich Suzuki. Der Producer, der schon als Jugendlicher in Sushigastronomien gejobbt hatte, verantwortete den Ausbau der Küche, das Personal, gestaltete die Menüs sowie das Logo, die Webseite und den Sound des Ladens. Lautsprecher waren auch in der Küche installiert. »Während die Leute aßen, zerteilten wir Fische und hörten gute Musik.« Bis Chef Suzuki 2016 bewusst wurde, dass er nicht zum Sushimachen auf die Insel gekommen war.»Unsere Veröffentlichungen klingen wirklich besser als die Originalpressungen«
Kay Suzuki
Nach einer Aussprache mit den Partnern verließ er »Brilliant Corners« arbeitete zunächst als Tontechniker für ein Studio, das ihm auch die Labelgeschäfte des Besitzers übergab. Nebenbei beriet Suzuki das japanische Start-Up Qrates, eine Art Crowdfunding-Plattform für Vinylpressungen, in Sachen Marketing. Er schlug vor, die Zielgruppe mit einem Reissue-Label bei Laune zuhalten, der Auftraggeber hätte Kay Suzuki gern das Projekt in die Hände gelegt. Bloß: »Ich wollte nicht ein zweites ›Brilliant Corners‹«, sagt Suzuki. »Ich hätte es machen können – aber es wäre nicht von Herzen gekommen.« Es kam nicht von Herzen, bis zu einem Festivaltag, an dem Suzuki sich einen Cocktail an Psychedelika reinpfiff, dass es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: »Mit der Community von ›Brilliant Corners‹ und ›BATB‹ bin ich umgeben von großartigen crate diggers und Musikfans. Reissues ihrer ausgewählten Titel zu veröffentlichen ist der ideale Weg, mein Umfeld abzubilden.«
Und so nimmt Suzukis Idee der »time art« nun in Form von Time Capsule Gestalt an. Mit dabei sind die zwei BATB-Freunde, der für seine akkurat sortierte Plattensammlung bewunderte Mitbewohner Pol Valls und der aus Brilliant-Corners-Zeiten stammende Ryota Opp. »Unsere Veröffentlichungen klingen wirklich besser als die Originalpressungen«, sagt Suzuki. Sich auf die audiophile Szene festlegen will er aber nicht: »Erst, wenn du Konzepte wie Zielgruppen aufbrichst, realisierst du die Musik.« Indem er die Gefühle, die Künstler in Töne übersetzen, klanglich so genau wie möglich nachbaut, will Suzuki der Hörerschaft bewusst machen, woher Musik kommt. Er ist zuversichtlich, dass ihm das gelingt: »Ich habe jahrelange Erfahrung mit Audio, sei es als Künstler oder als Tontechniker. Jetzt weiß ich wirklich, was zu tun ist.«
**Die Musik von Time Capsule Records findest du in unserem Wesbhop