Man kann R&B als eine Mischung aus Pop und Soul beschreiben. So handhabt man es zumindest seit den Achtzigern. Nur über die Zeit, hat das Genre nach und nach den Soul-Part dieser Definition eingebüßt. R&B hat seine Seele verloren. Und nicht nur das, auch die Raffinesse dieser Musik blieb auf der Strecke. Zum Großraum-Dissen-Sound verkommen, schien die Zusammensetzung stets nach dem selben Prinzip zu funktionieren: Eine gute oder gut ausgebildete Stimme wurde über ein David-Guetta-Instrumental gelegt. Kitschiger, kalkulierter Pop – mehr nicht. Gesangliches Können schien nur so einem breiteren, jungen Publikum zugängig gemacht werden zu können. Jedoch war diese Verarbeitung den meisten Musiknerds zu plastisch, zu billig, zu vorhersehbar. Der R&B hatte so die Fähigkeit verloren, auch abseits des Musikfernsehens und der Charts, in den elaborierten Kreisen der Musikblogs und Nerds ernst genommen zu werden. Ein Genre schien den Sinn für Feinheiten verloren haben. Von Innovationen oder Blick fürs Detail konnte lange Zeit keine Rede sein. Als »Nischenmusik« war R&B inzwischen unvorstellbar geworden. Dass eine Nachfrage nach Pop mit Herzschmerz, nach elaboriertem Gesang auf andersartigen Produktionen durchaus bestand, kann man nun am Erfolg von Künstlern wie James Blake oder Jamie Woon sehen, die ihren Aufstieg eben dem Interesse jener Musiknerds zu verdanken haben, die R&B bislang verschmähten.
Doch nun könnte ein Umdenken stattfinden, denn plötzlich gibt es mit The Weeknd eine Band, die sich zu den gängigen Praktiken im R&B querstellt. The Weeknd haben am schnellsten erkannt, welch schöne Lücke es hier auszufüllen gilt. Die Band um Jeremy Rose und Abel Tesfaye aus Toronto ist, was den Einsatz von Vocals anbelangt, so R&B wie, sagen wir, The Dream. Doch mit dem Stimmeinsatz hören die Gemeinsamkeiten abrupt auf. The Weeknd verzichten auf eine Titelseite in den Gossip Magazinen, sie verzichten auf großspurige Künstlervorstellungen auf den Musiksendern, sondern suchen bewusst den Einstieg über das Internet. Durch das konzeptuelle Zurückhalten von Informationen versuchte die Band die rasenden Blogs dazu zu zwingen, kurz inne zu halten. Blogposts enthielten in der Folge meist Adjektive wie »mysteriös« und vage Informationen.The Weeknd hatte es geschafft: Die Blogosphere hatte kurz Luft geholt und einem neuen Phänomen Raum gegeben. Auch die Kategorisierung der Musik von The Weeknd zwang das Netz dazu, sich in seinen Beschreibungen Zeit zu nehmen. Wie konnte man diesen neuen R&B erklären, den die Heads plötzlich ganz und gar unironisch abfeierten. Die Band hatte ein Momentum gewonnen. R&B fand hier einen neuen Ausdruck und mithin eine Hörerschaft, die die Trends abseits der populären Musik in ihrem ursprünglichen Sinn formt.
Hustensaft Gone Sexy*Das bisherige Gesamtwerk von The Weeknd klingt stark nach verschwommenen erotischen Träumen im Drogenrausch, nach weiblichen Silouetten hinter verschwollenen Augen – R&B auf Codein.
Der Aufstieg von The Weeknd zum nächsten großen Ding im Netz, forcierte schließlich eine Erwähnung von Drake (ja, genau der!) auf dessen Blog. Ohne Beschreibungen zu Hindergründen, war die geheimnisvolle Aura um die Band gewährleistet, das Interesse geweckt. Seit letzter Woche gibt es auf ihrer Homepage mit House Of Balloons das erste »offizielle« Mixtape der Kanadier. Es beinhaltet zum Großteil Stücke, die schon eine Weile durch das Internet geistern. Doch Song für Song beginnt man zu verstehen, warum das kanadische Duo den R&B ein Stück weit neu erfinden konnte. Loft Music ist ein perfektes Beispiel dafür, wie das den beiden Jungspunden gelingen könnte. Mit einem Beach-House-Sample schlug dieser Track schon mal leicht die Brücke ins Indie/Chillwave- Lager. Textlich ist er aber genau das, was man von einem R&B-Track erwarten würde: Aufforderung zum Kleider ausziehen und die Begeisterung der eigenen Sexyness. Den Unterschied macht hier die musikalische Untermalung. Der Beat wabert dunkel und als Kontrast zu den hellen, jungenhaften Vocals, stolpert, nickt ein und wacht mit noch tieferen Drums wieder auf. Hustensaft gone Sexy sozusagen. Ein Trend der auf What You Need verfeinert und an moderne Phänomene angepasst wird. Gepitchte, hallende Vocals unterstützen einen Beat, der langsam von der Stelle schleift, von Bassdrum zu Bassdrum. Den Unterschied zu The Loft macht diesmal, dass auch die eingesungenen Vocals verirrt im Raum zu schweben scheinen, nicht mehr so greifbar wirken. Sie hallen, rauschen, wiederholen sich, verlieren sich im Abstrakten, fangen sich wieder und fahren in normalen Pop-Strukturen fort. Die Progressivität der Dubstep-Bewegung hat hier seine weiten Kreise gezogen. So nutzen auch The Weeknd jene Konzepte, mit denen James Blake »seelenvollen« Gesang wieder spannend machen konnte. Jedoch sind sie dabei nicht ganz so minimalistisch und basslastig wie der britische Senkrechtstarter. Konkreter sind die meisten Songs in Strophe und Refrain eingeteilt. Allerdings brodelt auch hier musikalisch und textlich eine Unzufriedenheit, eine trübe Tiefe unter allem: »Bring your love baby I could my shame,/ bring the drugs baby I could bring my pain«, singt Abel Tesfaye. The Weeknd klingen stark nach verschwommenen erotischen Träumen im Drogenausch, nach weiblichen Silhouetten hinter verschwollenen Augen, nach R&B auf Codein. Es ist überhaupt die von Beruhigungsmitteln geträngte Langsamkeit der Songs, die gemeinsam mit der inhaltlichen Desillusionierung (»Twist and turns, and the only girls that we f— with/ seem to have 20 different pills in them«) dem stereotypen Rythm and Blues seinen Glitzer nimmt, ihm das Make-Up verschmiert und an den gängigen Charts-R&B nur noch als Hauch erinnert. In einer Zeit, in der Übersättigung der Haltbarkeit vorgezogen wird, kontrastiert The Weeknd dabei ihre Internetpräsenz mit einer Abwesenheit in der realen Welt.