Es wurde uns von einer Zeit berichtet, die man durchaus als rückständig betrachten kann. Das Klonen von Schafen war noch eine Riesensache. Der Euro träumte noch den Schlaf des Nichtexistenten. Berlin-Friedrichshain war noch nicht gentrifiziert. Ein Mobiltelefon war ein kiloschwerer Knochen mit einer Batterie von der Größe eines Benzinkanisters. Freundschaften wurden noch von Angesicht zu Angesicht gepflegt. Und das Internet, ja, das war ein weitgehend unerschlossener Raum. Es war also eine Zeit, in der das Weltwissen noch in meterlangen Lexikonreihen in massiven Schrankwänden schlummerte und die seltene Schallplatte eben nicht mit ein paar Clicks und Swipes zu finden war. In dieser wüsten Szenerie fand sich Ende der 1990er Jahre Thomas Ulrich wieder.
Tom und sein Freundeskreis beschäftigten sich am liebsten mit Schallplatten. Sie hörten und sammelten und liebten sie. Das Sammeln und der Tausch wurden allmählich zur Passion und schließlich ein Geschäft. Hip-Hop aus den USA, abseits des Mainstreams, war schwer, auf Vinyl nur sehr schwer, zu bekommen. Schon gar nicht zu einem fairen Preis. Die Idee, das zu ändern, war der Kick Off von dem, was heute HHV ist.
Die Anfänge: »Learning By Doing«
Kurze Zeit später wurde Tom zum Phantom. Von Partys verschwand er spurlos, mitten in der Nacht, um Angebote aus den an Popularität zunehmenden Online-Auktionshäusern abpassen zu können. Das Vinyl wurde fortan also auch aus Übersee herangeschafft. Im Jahre 2002 wurde dann unter der URL www.hiphopvinyl.de eine Homepage aufgesetzt, von der aus seinen Errungenschaften auf Vinyl via Excel-Listen eingesehen und bestellt werden konnten. Aus Toms Wohnzimmer heraus wurde ein Gewerbe angemeldet und Pakete nach ganz Europa verschickt.
Es folgten erste Mitarbeiter, die aus dem Freundeskreis und aus dem Zirkel der Stammkunden rekrutiert wurden. Besonderes Steckenpferd war der Vertrieb von »Underground Hip-Hop« aus den USA. Respektierten Künstlern wie den Living Legends oder den Hieroglyphics, sowie Plattenlabels wie Rhymesayers oder Stones Throw wurde die Möglichkeit gegeben hierzulande mehr Beachtung zu erlangen.
Anfang 2003 wurde in der Niederbarnimstraße 4 in Berlin-Friedrichshain der erste Shop eröffnet, der als regulärer Plattenladen mit größeren Lagermöglichkeiten diente, über den aber nun auch mehr und mehr Online-Geschäfte abgewickelt wurden. Schritt für Schritt entwickelte man sich weiter. Die anfänglichen Excel-Listen wichen mit der Zeit professionelleren Datenbanken. Und aus mancher Not machte man eine Tugend.
Entscheidungen wurden basisdemokratisch mit der gesamten Belegschaft gefällt und so ging es gemeinsam Schritt für Schritt weiter. »Wir haben immer aufgepasst, dass der Shop nicht zu schnell wächst«, erinnert sich Thomas Ulrich. Auch die Promotion und Werbung fand noch in kleinem Rahmen statt. So verteilten die Mitarbeiter fleißig Flyer für den Shop auf allen relevanten Konzerten der Hauptstadt, während Tom die Merchandisestände leer kaufte.
So begann man mit den erworbenen Band-Shirts nebenbei auch Streetwear anzubieten. Hinsichtlich des Marketings sollte sich das Internet jedoch bald darauf als Selbstläufer ganz anderer Größenordnung erweisen.
Was’ der Handel?
Auf dem Splash! Festival 2003 bekam das Team erstmals die größeren Ausmaße ihres Handel(n)s hautnah zu spüren. Die mitgebrachte Ware, die an einem kleinen provisorischen Plattenstand angeboten wurde, verkaufte sich innerhalb des ersten Tages restlos, so dass noch in der gleichen Nacht Nachschub aus dem Berliner Lager an den Chemnitzer Stausee geordert werden musste.
Kurze Zeit später kam die Idee auf, das Angebot, bestehend aus Rap-Musik, um Soul- und Funk-Platten zu erweitern. Wie sooft in der Geschichte der Firma war auch diese Entwicklung weniger kalkuliert als vielmehr durch das eigene Interesse geleitet. Der Musikgeschmack der Mitarbeiter wurde einfach mit den Jahren breiter und breiter. Das spiegelte sich jetzt im Angebot wider. Mehr und mehr Genres fanden Einzug ins Repertoire. Die Auswahlkriterien waren fortan nicht mehr getragen von einem Stil, sondern zunehmend bestimmt durch Qualität. Mit dem stetig wachsenden Inventar an Vinyl und dem zunehmenden Absatz von Bandmerch ging zugleich ein Paradigmenwechsel einher: Aus dem anfänglichen »Kiez-Ding« wurde eine überregionale Größe.
Daneben eröffnete sich HHV Ende 2003 eine weitere Bühne, um seine Leidenschaft für gute Musik auszuleben. Die Veröffentlichung des Tapes »Funkfurter Tor«, der dem Betrieb nahestehenden Hip Hop-Formation Pilskills war ein erster zaghafter Gehversuch als Plattenlabel. Diese Idee wurde mit der Integration des Labels Project: Mooncircle in das Firmengeflecht konkretisiert.
Schon bald folgte der zweite Release eines Tonträgers. Die auf 500 Stück limitierte 7“ »Phuk die Beeatch/Sonnenzchein« von Taktlo$$ war innerhalb von zwei Wochen ausverkauft. Inzwischen sind mehr als 800 Releases erschienen, von Künstlern wie Masta Ace, The Doppelgangaz, AzudemSK, Shacke One, Dexter oder Twit One. Die Labelfamilie wurde sukzessive durch Imprints und Reihen wie 90’s Tapes, Beat Jazz International, KEATS oder Boombap 45s erweitert.
Sucht man nach dem Erfolgsrezept von HHV, so findet man dieses sicherlich in der über die Jahre erhaltenden Leidenschaft und Liebe für die Sache.
Auch zu dieser Zeit, ein wenig später vielleicht, erschien der erste Katalog in gedruckter Form. Im Copyshop um die Ecke in Schwarz-weiß vervielfältigt und mit einer Heftklammer getackert, ging dieser an die Kunden. Innerhalb weniger Tage war der Katalog vergriffen und die Ausgabe musste nachgedruckt werden. Aber man kannte den Weg zum Kopierladen ja inzwischen. Doch schon mit der nächsten Ausgabe war vom »Do-it-yourself-Look« des ersten Kataloges nicht mehr viel übriggeblieben.
Im Stile eines Magazins bereicherte man den Warenkatalog um journalistische Inhalte und konnte abermals zeigen, welches Wissen und Passion im Team von HHV schlummerte. Besonders in der deutschen Hip Hop-Landschaft erweist sich das Magazin schnell als feste Institution und liefert bis 2012 Beiträge von versierten Musikjournalisten.
Einmal musste die Auslieferung des Magalogs (Hybrid aus Magazin und Katalog) auf sich warten lassen, weil das Plattenlabel Royal Bunker eine Anzeige mit rauchenden Kindern geschaltet hatte, die mit den ethischen Grundsätzen der Druckerei nicht in Einklang zu bringen war. Man selbst schaltete inzwischen auch Anzeigen in einschlägigen Magazinen, wodurch der Bekanntheitsgrad noch einmal gesteigert werden konnte. Die Konsequenz war, dass die Lagerfläche in der Niederbarnimstraße nicht mehr ausreichte. Bereits im Sommer 2004 folgte der Umzug in die Grünbergerstraße.
Expansion durch Facettenreichtum
Nun machte man sich an die Details und das nicht ohne Akribie. Für die angebotenen Tonträger wurden ab diesem Zeitpunkt die Plattencover eingescannt, durch wissenswerte Infos ergänzt und mit kurzen Hörproben versehen. Ganze Maschinen wurden extra für diesen Vorgang erfunden. Kein Scherz! Und schließlich wurde zur Darstellung der Produkte ein Fotostudio eingerichtet.
So setzt sich Baustein für Baustein zusammen. Der Shop wurde größer und mit ihm wuchs die Belegschaft, die längst nicht mehr nur aus den Freundeszirkeln gewonnen wird. Parallel in der Entwicklung stieg auch die Bedeutung von Bekleidung im Angebot des Mailorders. Unser Lager wurde inzwischen zu klein und so bauten wir die Logistik aus und zogen im Jahr 2016 in ein eigenes großes Lager in Berlin-Friedrichsfelde, von wo aus seither Tausende von Paketen Tag für Tag zu unseren Kund*innen verschickt werden.
Auch in musikalischer Sicht beruft sich der Betrieb schon lange nicht mehr nur ausschließlich auf die einst namengebende Hip Hop-Kultur und deren musikalischen Väter. Heute findet sich im Shop ein zeitgemäßes Angebot aller Arten von Musik auf Vinyl, die zugleich die bunte Diversität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter reflektiert.
Passend dazu kam im März 2011 unter der URL www.hhv-mag.com unser Online-Magazin dazu, das der Vielseitigkeit des Shops eine exemplarische Klammer gibt. Täglich mit News, Reviews, Events, Berichten, Interviews und Kolumnen aktualisiert wird hier eine Übersicht über relevante Musik auf Schallplatte und die Menschen dahinter gegeben. Mehr als 10.000 Beiträge sind hier inzwischen zu finden. Ein großer Teil der Inhalte ist inzwischen auch in englischer Sprache verfügbar. Im Jahr 2022 wurde die Seite in komplett neuem Gewand relaunched.
Doch nicht nur in Sachen Musik hat HHV etwas zu sagen. 2019 hatte man mit dem HHV Journal der kulturellen Bedeutung von Mode ein Zuhause geschaffen – mit News, Features und Stories zu relevanten Marken, Produkten und Akteuren, die die Straßenkultur prägen. Seit dem Launch schreibt man hier auch über eigene Kollaborationen mit großen und lokalen Marken.
Zurück in die Grünberger Straße
Im Jahr 2014 beziehen wir unser heutiges Ladengeschäft. Der HHV Store führt uns nicht nur wieder zurück in die Grünberger Straße, sondern gibt uns seither auf 200 Quadratmeter die Vielseitigkeit von HHV in einem Geschäft aufzustellen. Aber mehr noch! Es gibt uns den Raum, Musikerinnen und Musiker zu begrüßen, egal ob Kiezgrößen oder Legenden. So konnten wir Ed Motta, Mndsgn, The Arabian Prince, Masta Ace und so viele mehr bei uns begrüßen. Und manchein*e kommt auch einfach nur zum Einkaufen.
Namhafte Künstler*innenn war auch bei unseren Konzertvereanstaltungen zu Gast. Darunter Eloquent, Audio88 und Yassin, Schaufel und Spaten, Shacke One, The Might Mocambos, eMC, Pete Rock, Blackalicious, Apollo Brown oder MF DOOM.
Mit den Diggin’ Days haben wir jährlich für ein paar Tage ein El Dorado für Schallplattensammler*innen in Berlin geschaffen, mit tonnenweisen mit Vinyl gefüllten Kisten und DJs die ihr Handwerk an den 1210ern zu verrichten verstanden.
An die Zukunft denken
In diesem Jahr steht also das zwanzigjährige Bestehen an und das soll im Hause HHV gebührend feiern. Geplant sind Festivitäten bei uns im HHV Store in Berlin-Friedrichshain, sowie Kooperationen mit Brands, die zu ganz besonderen Produkten führen. In Sachen Vinyl werden wir für jedes Jahr von 2002 bis 2022 eine Schallplatte picken und diese in einer exklusiven 20 Years HHV-Edition anbieten. Haltet dafür die Augen offen, auf all unseren Kanälen.
Sucht man also nach dem Erfolgsrezept von HHV, so findet man dieses in der über die Jahre erhaltenden Leidenschaft und Liebe für die Sache. Wer hinter HHV ein »Imperium« vermutet, muss enttäuscht werden, denn hier arbeiten ganz normale Menschen. Menschen, die ganz aus eigener Kraft und ohne Investoren, eine der Anlaufstellen für Vinyl und Mode weltweit geschaffen haben. Hoch die Tassen!