Records Revisited: Why? – Alopecia (2008)

10.09.2018
10 Jahre alt ist »Alopecia« dieses Jahr geworden. Sein Namen bezeichnet einen kreisrunden Haarausfall. Über ein Album, das über das Nebeneinander von Sentimentalität und Gleichgültigkeit den Zeitgeist einfing wie kein zweites.

Die Twin Towers waren seit sieben Jahren kaputt, Obama konnte tatsächlich Präsident werden, alle waren um die 20 Jahre alt. 2008, alle hatten gerade ihren Schulabschluss gemacht. Alles war irgendwie schon beschissen, aber es gab noch Hoffnung. Alle waren bereits an-desillusioniert. Aber alle dachten noch, dass es losgeht. Dass irgendwas losgeht.

Alle waren safe, alle waren so fucking safe. Das Haus von jedem Bekannten hatte einen eigenen vertrauten Geruch. Und alle hatten die gleiche Nacht und alle hatten den gleichen Tag und alle waren so safe. Und alle so gelangweilt und niemand hätte gedacht, dass das je fehlen würde. Alle aßen irgendeinen Fraß und fingen an zu rauchen. Niemand würde je sterben. Alle hatten Eltern. »At your house the smell of our still living human bodies and oven gas«.

Alle dachten: So muss es sein, wir gehen auseinander. Alle waren die besten Freunde. Die besten Freunde und es war egal. Dort, wo alle waren, war es eh trist. Man hatte sich, man hatte sich hart. Man hatte sich so hart.

»You took off your bra to wrap the wound, though the man was dead and there was no need«.

Yoni Wolf of Why?
Aber alle mussten ja weg. »If you grew up with white boys who only look at Black and Puerto Rican porno, cause they want something that their dad don’t got, then you know where you at«. Alle waren sich sicher, dass die Tragik schön werden würde. Dass es gute lebendige Gründe geben würde. Niemand dachte, dass man sich wegen kapitalistischer Zwänge verlieren würde.

Ein Jahr zuvor, die Wirtschaftskrise. Aber die hat niemanden gejuckt. Alle waren um die 20. Alle dachten, vielleicht kommen wir ja auch so durch. Ohne Wirtschaft und den ganzen Scheiß. Niemand glaubte es mehr wirklich, aber niemand glaubten es auch noch nicht nicht mehr.

Niemand dachte, dass es NICHT tragisch-schön werden würde, sondern trist und vernichtend und ohne jede Poesie.

»Even though I haven’t seen you in years yours is the funeral I’d fly to from anywhere«.

Alle stellten sich vor, wie man sich Jahre und Jahrzehnte nicht sehen würde. Weil, selbst wenn man sich wirklich liebte, es halt Gründe geben würde, die fürs Leben sprechen. Dass es fürs Leben sprechen würde, wenn man sich erst auf einer Beerdigung wieder sehen würde. Die Tragik war nichts als Poesie. Der Tod war nichts als Poesie. Alle dachten wirklich, dass das, was passieren würde, fürs Leben sprechen würde. Dass schon alles fürs Leben sprechen würde.

Alle glaubten noch. Dass es eine Lösung für alles geben würde, dass es richtig laufen könnte. Dass man es unter Kontrolle hätte. Dass die Liebe funktionieren würde. Tragik war nichts als ein poetisches Mittel. Noch konnte sich niemand vorstellen, dass es tatsächlich passieren würde. Dass man verliert. Dass man einfach so verliert. Weil man verliert, weil alle verlieren. Nicht, weil verlieren Sinn macht. Nicht, weil es poetisch ist. Niemand dachte, dass er je die Hochzeit der Liebe seines Lebens besuchen würde. »But I still hear your name in wedding bells«.

Verlust war eine Wahl. Verlust führte man herbei, weil es so viel gab, dass man verlieren wollte. Man stellte sich schöne Enden vor, Selbstmord, Auflehnung, einen blauen Planeten. Nicht Schläuche, niemals Schläuche. Alle machten Witze über alles. »I sleep on my back cause it’s good for the spine and coffin rehearsal«

Niemand dachte, dass er wirklich irgendwann an einem normalen Fenster sitzen und auf den blauen Himmel schauen würde. Alles still; nur im Nebenzimmer das Geräusch, das eine kleine Gabel macht, die durch den Kirschkuchen auf den Teller dringt. Und hinter einem liegt die eigene Mutter und stirbt. Niemand dachte wirklich, dass alle vor ihm sterben würden.

Aber in allen wuchs die Ahnung. Von allen noch ungesehen. Und alle malten sich das Ende aus – und es war romantisch. »Alone putting three coins into a washing machine, next to a caulked, cracked wall«.

Alle waren mächtig. Und alle würden ihre Macht nutzen, um die beste Zeit allerzeiten zu haben. Alle kifften, alle kotzten, »I woke up hungover on a hardwood floor«, alle liebten, alle litten; alle fühlten, alle fühlten, alle fühlten. Und die ersten meinten zu lernen, dass es stimmt: dass Ironie hilft. Um weniger zu lieben und weniger zu fühlen und weniger zu leiden. »Devoid of all hope circus mirrors and pot smoke«.

Und alles fing an, nur noch Geste zu sein. »You took off your bra to wrap the wound, though the man was dead and there was no need«.
Alle fingen an, nur noch Dinge zu sagen und Dinge zu tun, die ihrem optimalen Selbstbild entsprachen. Alle lebten sich auseinander, obwohl alle immer gleicher wurden. »An empty oyster cell and celebrate the hollows«.

Why?
Alopecia 10th Anniversary Deluxe Edition
Joyful Noise • 2018 • ab 29.99€
Alle lernten alles und alle wussten immer mehr und alle haben alles verlernt. Die Zeit wurde ein Monster. Der Weltgeist wurde ein Virus, ganz das 21. Jahrhundert. Weil alle anfingen, das Kompensieren zu perfektionieren. Allen war es das Wichtigste überhaupt, die ur-menschliche Kümmerlichkeit endgültig zu verstecken. Und alle anderen fingen an, es nachzumachen. Und fingen an, gut darin zu sein. Gut in was zu sein. Und alle anderen nahmen’s ihnen ab. Und alle entwickelten Komplexe, weil sie’s nicht waren: So schlau oder so schön oder so gut oder so anti all das. Und kompensierten. Und machten etwas aus sich. Alle waren ab jetzt für immer einem unumkehrbaren Missverständnis unterlegen.

Alle gingen nach Berlin. »I saw two men fuck in the dark corner of a basketball court, just the slight jingle of pocket change pulsing«. Die Häuser der Freunde waren weg, die Gerüche waren weg, alle hatten andere Tage und alle hatten andere Nächte. 2008, »Faking suicide for applause«

Alle hatten es geschafft: Nicht mehr so viel Angst vor dem Tod zu haben.