Records Revisited: V/A – Artificial Intelligence (1992)

08.12.2022
Elektronische Musik zum Einfach-so-Zuhören war 1992 weit weniger verbreitet als heute. Die Compilation »Artificial Intelligence« von Warp tat damals einen folgenreichen Schritt in diese Richtung. Sie war der Auftakt für stilistische Wandlungen der Clubmusik durch eine Generation neuer Künstler wie Autechre.

Die Zukunft war vor 30 Jahren noch grün. Menschen sahen hingegen aus wie Schaufensterpuppen, rauchten Joints und, in dem Punkt stimmte die Prognose definitiv, hörten Schallplatten. Auf dem liebevoll eckig computergestalteten Cover der 1992 vom britischen Warp-Label veröffentlichten Compilation »Artificial Intelligence«, genauer »(Artificial Intelligence)«, lümmelte eine metallisch glänzende Figur etwas steif in einem Sessel vor einem Schallplattenspieler, auf dem Boden ausgebreitet ein paar Popklassiker.

Die abgebildeten Cover dienten als Wink für die Inspirationen zu den Klängen, die auf dieser Platte zu finden sein würden. Zu sehen sind Kraftwerks »Autobahn«, »The Dark Side of the Moon« von Pink Floyd und, durchaus selbstbewusst, die erste Compilation des Hauses Warp, »Pioneers of the Hypnotic Groove« aus dem Vorjahr. Letztere war bei aller Selbstbezüglichkeit keineswegs unpassend, schließlich markierte die Auswahl auf »Artificial Intelligence« eine Verschiebung auch bei den vertretenen Künstlern.

Electronic Listening Music

Waren 1991 noch Namen wie Sweet Exorcist, LFO und Nightmares on Wax im Programm, Pioniere, die mit ihren Singles und Alben auf Warp den nordenglischen Beitrag zur Bleep-ifizierung von Techno im Rest der Welt geleistet hatten, setzte man jetzt auf andere Produzenten, die teils schon berühmt waren, hier jedoch unter anderem Namen auftraten oder später unter anderem Namen mehr Bedeutung erhalten sollten. Vor allem boten sie andere Musik als von ihnen gewohnt. Schon der erste Track von The Dice Man kam im Grunde von einem »alten« Bekannten, Richard D. James, der als Aphex Twin in Technokreisen längst Aufmerksamkeit erregt hatte. Sein Track »Polygon Window« empfiehlt sich als melodische Clubnummer mittleren Tempos, ganz wie der Großteil der übrigen Beiträge.

»Artificial Intelligence« gilt nicht allein als Mutter allen IDMs, es war ebenso der Einstand für eine Albenreihe, in der die neuen Künstler des Labels mit ihrem Stil besonders zur Geltung kommen sollten.

Unter dem Namen Musicology ist das Duo Mike Golding und Steven Rutter vertreten, mit noch einmal bedächtigerer Musik, zu der man wenig später Downtempo sagen sollte, bloß dass solche Bezeichnungen damals halt nicht geläufig waren. Noch einmal abgehangener der holländische Techno-Haudegen Jochem Paap alias Speedy J, dessen »De-Orbit« die entspannte Stimmung des Coverbilds perfekt einfängt. »Electronic listening music« nannte Warp das schlicht als kundenfreundliche Handreichung.

Die Mutter aller Intelligent Dance Music

Wenig später sollte diese zurückgenommene Art von elektronischer Musik unter einem anderen Namen bekannt werden, der seiner inflationären Verwendung wegen manche Technofreunde das Fürchten lehren sollte: IDM, Intelligent Dance Music. Dem bis heute unter diesem Rubrum geführten Genre diente »Artificial Intelligence« mutmaßlich als Geburtshelfer. Was die Frage aufwirft, ob die Prägung bedeuten sollte, dass sämtliche Tanzmusik bis dahin als dumm zu betrachten sei. Wohlgemerkt, Warp hatten besagtes Kürzel gar nicht benutzt.

Dafür hatten sie mit Autechre ein Duo an Bord genommen, dass in Gesellschaft der anderen Kollegen nicht übermäßig aus dem Rahmen fiel, wenngleich ihre Breaks eckiger waren als etwa die von Ken Downies Projekt I.A.O., das sich auf der Platte in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihnen fand. Autechres späterer Weg deutet sich in »Crystel« mit einem Tempowechsel mitten im Stück an, während sie in »The Egg« ein aufschäumendes Bassblubbern als Basis ihres gut siebenminütigen zweiten Titels wählten. Den »konventionellsten« Techno lieferte im Übrigen ein Künstler mit dem unscheinbaren Namen UP!. Dahinter verbarg sich der Kanadier Richie Hawtin.

»Artificial Intelligence« gilt nicht allein als Mutter allen IDMs, es war ebenso der Einstand für eine Albenreihe, in der die neuen Künstler des Labels mit ihrem Stil besonders zur Geltung kommen sollten. Den Auftakt machte 1993 Richard D. James als Polygon Window, wie er sich inzwischen nach seinem Track nannte. Als nächste folgten im selben Jahr Black Dog Productions, zu denen sich Ken Downie mit den Musikern des späteren Duos Plaid zusammengetan hatte. Ferner Golding und Rutter unter dem Namen B12, und Richie Hawtin gab sich als F.U.S.E. die Ehre, wobei er seine Platte »Dimension Intrusion« zunächst auf dem eigenen Label Plus 8 herausbrachte, ähnlich wie bei Speedy Js »Ginger«. Den Abschluss des Albenreigens sollten Autechre bilden, ihr »Incunabula« war der Beginn der wohl größten »IDM«-Karriere bei Warp überhaupt. Aber das ist eine andere Geschichte.