Records Revisited: Tortoise – Tortoise (1994)

19.07.2024
Als man den Rock scheinbar verabschiedete, mit einem „Post“ davor: Das Chicagoer Quintett Tortoise definierte auf seinem Debütalbum mit zwei Bassisten und drei Schlagzeugern das Konzept der Rhythmusgruppe neu.

Es rumpelt im Gehölz. Aus einem Bassverstärker poltert es dumpf zwischen Rückkopplung und Slapping vor sich hin, leise Synthesizerklänge dazu deuten an, dass man es mit Musik zu tun hat, die nebenbei diverse Geräusche integriert. »Magnet Pulls Through«, der erste Titel des selbstbetitelten Debüts von Tortoise aus dem Jahr 1994, scheint erst einmal seinen Weg zu suchen, bevor sich repetitiv-stoische Bass- und Schlagzeugpatterns herausbilden, immer wieder kurz von eruptiven Steigerungen unterbrochen. Kein Gesang, mutmaßlich keine Gitarre.

Über die Dauer von 50 Minuten bildet das Chicagoer Quintett Tortoise auf dieser Platte eine Welt fast ganz aus Drums und Bass. Wobei der Gedanke an Clubmusik eher in die Irre führen würde. Die Formation, damals bestehend aus den Bassisten Bundy K. Brown und Douglas McCombs und den Schlagzeugern Dan Bitney, John Herndon und John McEntire, war Ende der Achtziger von Herndon und McCombs gegründet worden und brachte Musiker von Bands wie Eleventh Dream Day (McCombs) und Bastro oder Gastr del Sol (Brown, McEntire) zusammen.

Weniger ist mehr

Mit ihrem Rhythmusgruppenansatz lieferten Tortoise einen radikal reduzierten Beitrag zu dem, was sich seinerzeit unter dem Namen »Post-Rock« anschickte, die Gitarrenmusik zu erweitern. Tortoise taten das vor allem durch Weglassen. Bei ihnen löst sich Rock oft in Strukturen aus Dub und Minimal Music auf, ergänzt um Jazz-Ansätze, die in Chicago ihrerseits gern mit Wiederholung einhergehen. Den Dub führen Tortoise etwa in Stücken wie »Onions Wrapped in Rubber« auf die Spitze, wenn hallende Schlagzeugschläge mit pulsenden Geräuschen und im Hintergrund rauschenden Frequenzen einen weitgehend leer gehaltenen Raum öffnen, der im Pop damals noch kaum betreten worden war. Überhaupt gibt es für eine Band, die, wenn auch in entfernter Form, dem Rock zugerechnet wird, sehr wenige Gitarrenklänge.

Tortoise leisteten einen radikal reduzierten Beitrag zu dem, was sich damals unter dem Namen »Post-Rock« anschickte, die Gitarrenmusik zu erweitern. Sie taten dies vor allem durch Weglassen.

Höhepunkt ist dann die mit achteinhalb Minuten längste Nummer »Spiderwebbed«. Holzartig knirschende Basspatterns verzahnen sich ineinander, ein zunächst stoisches Schlagzeug wird später von polyrhythmischer Perkussion in kreisende Bewegung versetzt. Das Ganze ein Wunderwerk minimalistischen Instrumental-Rocks, bei dem der statische Monumentalismus von Bands wie Can durch einen wunderbar flüssigen Groove eine Entspannungsübung verordnet bekommt.

»Tortoise« ist dabei keine komplett homogene Platte. In »Night Air« kommt mit den Tönen einer Melodica ein vertrautes Reggae-Element ins Spiel, und wenn am Ende der Platte in »Cornpone Brunch« eine knappe Vibraphon-Melodie den durchaus belebten Beat vorantreiben hilft, gibt das Album erste Hinweise, wohin sich Tortoise 1998 auf »TNT« entwickeln sollten.

Seltsam anziehen Sprödigkeit

Bis heute hat diese Musik, selbst wenn es inzwischen zahlreiche Projekte aus Chicago gibt, die auf eigene Weise in dieser Tradition gefolgt sind, ihre seltsam anziehende Sprödigkeit behalten, steht als selbstbewusst lakonisches Statement zur Zukunft des Rock nach dem Rockismus immer noch ganz zauberhaft als ein wie hingeworfener Klotz da. Ein Chicagoer Kollege wie der Bassist Joshua Abrams mag in seiner Reduktion der Musik auf tranceartige Rituale teils sogar extremer sein, doch diese Zusammenkunft auf »Tortoise« hat etwas Frisches, das nach wie vor den Kopf befreien hilft, gerade weil sie kein klares Label vor sich herträgt.

Am Ende ist die Bezeichnung »Post-Rock« auch nur ein Behelf, immerhin werden neben Tortoise so unterschiedliche Bands wie Bark Psychosis oder Disco Inferno darunter gefasst. Und die mediale Feier des akademisch etwas abgehoben anmutenden Begriffs Post-Rock geriet damals womöglich ohnehin etwas exzessiv. Um das, was Tortoise konkret getan haben, genau wahrzunehmen, ist er nur bedingt hilfreich.

Tortoise sollten auf ihrem zweiten Album »Millions Now Living Will Never Die« zwei Jahre später, insbesondere mit dem 20-minütigen Motorik-Epos »Djed«, ihren Beitrag zum Krautrock-Revival leisten und den großen Durchbruch feiern. Hier, auf ihrem Debüt, kann man noch hören, wie sie sich durchs Wurzelwerk arbeiten.