War dies das Pop-Album der Industrial-Gründer? Mit Throbbing Gristle assoziiert man ja für gewöhnlich Unappetitliches und teilstrukturierten Krach. Hier scheint die Sache auf einmal aus dem Ruder zu laufen. In die andere Richtung. Das Quartett aus Sheffield bietet Proto-Electronica-Lounge-Artiges (»Tanith«, »Exotica«, das Titelstück), einen ihrer wenigen Party-tauglichen »Hits« (»Hot On The Heels of Love«) und instrumentalen Synthiepop (»Walkabout«). Neue Harmlosigkeit?
Das ist selbstverständlich nur die eine Hälfte, wenn überhaupt, der Verwirrungsstrategie, die »20 Jazz Funk Greats« ist.
Eigentlich haben Throbbing Gristle nichts grundlegend Anderes gemacht. Sondern vielmehr lediglich die Mittel gewechselt.
Schon früh hatte die Band die Bedeutung von Information im Blick, was bei ihnen oft Unerfreuliches und öffentlich Verdrängtes wie Gewalt, gern in Gestalt von Tonband-Dokumenten, einschloss.
Davon gibt es nach wie vor einiges auf dieser Platte, wenn auch in weniger offensichtlicher Form. Angefangen beim Cover, das die »wreckers of civilisation« Genesis P-Orridge (heute Genesis Breyer P-Orridge), Cosey Fanni Tutti, Peter »Sleazy« Christopherson und Chris Carter auf einer idyllischen löwenzahnbestandenen Wiese an einer Steilküste zeigt. So weit, so hübsch. Bloß: Die Landspitze, an der das Foto aufgenommen wurde, heißt Beachy Head und ist vor allem als beliebter Ort für Suizide bekannt. Die zweite Nummer mit ihren verwehten Geigentönen wurde folgerichtig nach diesem Kreidefelsen benannt. Offenkundig Selbstmörderisches hört man darin nicht, nach heiler Welt klingt die Sache jedoch kaum.Die Frage ist womöglich, ob man eine Band wie Throbbing Gristle da überhaupt noch braucht.
Einer der interessantesten Songs in Sachen Ambivalenz ist »Persuasion«. Der Song, der wohl einen der reduziertesten Bässe des erweiterten Pop aufweist und ansonsten neben gelegentlichem Gitarren-Kreischen und dem Schreien einer Frauenstimme vom Tonband im Hintergrund lediglich den Singsang von Genesis P-Orridge zu Gehör bringt, könnte vom Thema her kaum aktueller sein. Erzählt er doch mit höchst sparsamen Mitteln am Beispiel der Höschenphotographie von Manipulation und davon, wie Männer ihre Machtposition gegenüber Frauen auch in sexueller Hinsicht auszunutzen wissen. Und das Gemeinste: das Stück ist auf seine verstörend hypnotisierende Weise ein echter Ohrwurm. Entziehen ist nicht: »Do it because I tell you / Do it because I love you«.
Vielleicht ist diese Strategie der Teil-Öffnung zu konventionelleren, Pop-konformeren Mitteln, die von innen systematisch entkernt werden, insgesamt das Perfideste an diesem Album. Ein Album, das im Vergleich zu den vorangegangenen Platten der Band sicherlich die wenigsten handfesten Schock-Werte vorzuweisen hat.
Heute mag das alles längst nicht mehr so drängend oder irritierend erscheinen. Pop ist ja auch nicht mehr, was er vor 40 Jahren noch war. Und Grenzüberschreitungen gehören, im begrenzten Rahmen, längst ebenfalls zum verkaufsfördernden Geschäft. Die Frage ist womöglich, ob man eine Band wie Throbbing Gristle da überhaupt noch braucht. Eine Frage, die regelmäßig wiederkehrend gestellt wird: Hat die Band, nachdem sie ihren historischen »Auftrag« erfüllt hat, den Pop mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen, sich nicht selbst erledigt? Wobei die Wiederkehr dieses Zweifels im Grunde reicht, guten Gewissens mit nein zu antworten.
Andererseits ließe sich fragen: Was bedeutet das von Throbbing Gristle propagierte Prinzip »Entertainment through pain« heute eigentlich? Im Fall von »20 Jazz Funk Greats« ließe sich sagen: Es tut nicht mehr ganz so akut weh wie früher. Dafür wirkt es nicht minder nach.