Records Revisited: The White Stripes – Elephant (2003)

01.04.2023
Orgiastische Gitarrenkunst und ein dadaistisch-naives Schlagzeug: Mit »Elephant« legten die White Stripes die vielleicht letzte große Rockplatte des 21. Jahrhunderts vor. Ein Monstrum aus Blues und Punk, das alles, wirklich alles in sich aufsaugt. Nach diesen vierzehn Songs fühlt sich das eigene Hirn wie zerkaut und ausgespuckt an. Und genau so soll es sein.

Bis zu den sieben Minuten und achtzehn Sekunden von »Ball and Biscuit« galt Jack White als talentierte Gitarrist. Bis dahin gab es das rotzige »I Think I Smell A Rat« oder den Abgesang »Dead Leaves and the Dirty Ground« auf dem Album »White Blood Cells«, alles große Würfe, alles Versprechen, die Jack White erst noch einlösen musste. Was er mit eben jenem Song auf »Elephant« tat, dem Album, das am 1. April 2003 erschien und im Rückblick wie ein Urknall wirkt.

Knapp 70 Jahre nach der Erfindung der elektrischen Gitarre entlockte Jack White dem Instrument Töne, die niemand für möglich gehalten hätte. Sein Instrument heulte, schrie, stöhnte, röhrte, hustete und rülpste. Mehr Lärm als Harmonie, mehr Urgewalt als Musik. Und gerade deshalb so unfassbar mitreißend und großartig. Über dem schleppenden Bluesrhythmus von »Ball and Biscuit« holte er immer wieder zu einem der größten Gitarrensoli aller Zeiten aus. Untermalt von Meg Whites stoisch rudimentärem Schlagzeugspiel – vielleicht der beste Kontrast, um seine Gitarrenkunst voll zur Geltung zu bringen.

Kein bloßer Abklatsch

Das ist der größte Moment auf einem großen Album. Etwas, das aus dem Sound der Zeit heraussticht. Die Stimmung kurz nach der Jahrtausendwende? Gitarrenmusik war tot. (Wieder einmal.) Beerdigt zu den Klängen von Radioheads »KID A« und begleitet von einer Welle sogenannter »The«-Bands: The Strokes, The Libertines, The Vines und (ohne Artikel vor dem Namen) Interpol, Ikara Colt und die Yeah Yeah Yeahs.

Allen gemeinsam: Ihr Sound bezog sich deutlich auf musikalische Vorbilder wie The Velvet Underground, die Rolling Stones, Nirvana oder Sonic Youth. Grundlegend Neues war auf ihren Alben nicht zu finden. Das war alles nicht mehr nur Nostalgie, sondern manchmal schon nahe am offensichtlichen Abklatsch. Und auch The White Stripes schafften es in viele Beiträge zu diesem Phänomen, aber wohl eher wegen des Artikels in ihrem Namen als wegen ihres Sounds.

Jack und Meg White kopieren nicht, sie kreieren. The White Stripes sind Originale. Das hört man auf »Elephant« in jedem der vierzehn Songs.

Denn die bisherigen Alben, allesamt Bluesrock und Punk getränkte Brecher, haben eindeutig ihre musikalischen Vorbilder, aber Jack und Meg White kopieren nicht, sie kreieren. The White Stripes sind Originale. Das hört man auf »Elephant« in jedem der vierzehn Songs. Auf das ausgetüftelte »Black Math«, das die Gitarrenmusik im Alleingang wiederbelebte, folgte das eskapistische »There’s No Home For You Here« inklusive Chor als Träger der Gitarre.

In »Girl, You Have No Faith In Medicine« groovten The White Stripes mit Schlagzeug, Gitarre und Tamburin über drei Minuten lang, während »Seven Nation Army« den vielleicht besten stampfenden Einstieg aller Zeiten bot. Stets begleitet von Texten, die mal mehr, mal weniger kryptisch von der Liebe und dem Abgesang des amerikanischen Sweethearts erzählten. (Gekrönt von »It’s True That We Love One Another«, das den bis heute nicht ganz geklärten Beziehungsstatus zwischen Jack und Meg White thematisierte).

Rohe Energie

Das Album selbst entstand größtenteils bereits 2002, aufgenommen in den Toe Rag Studios in London mit antiquiertem Equipment. »No computers were used during the writing, recording, mixing, or mastering of this record«, hieß es in den Liner Notes, was je nach Journalist als exzentrische Spinnerei oder künstlerischer Ausdruck durchging. Eines ist sicher: Mit Erscheinen des Albums galten The White Stripes aufgrund der rohen Energie, die sich auf »Elephant« endgültig Bahn brach, als eine der besten Bands des Planeten. Der amerikanische Rolling Stone schrieb in seiner Liste der 500 besten Alben aller Zeiten: »Das vierte Studioalbum der White Stripes […] veränderte alles, was wir über Rockmusik wussten.«

Ein Album so gegen den Trend, so gegen den Stilwillen der Zeit, so gegen die aufgesetzte Coolness anderer Bands. Und wer bis heute nicht in den Genuss von »Ball And Biscuit« gekommen ist, der möge sich unter Kopfhörern sieben Minuten und achtzehn Sekunden lang von dieser Gitarrenraspel das Hirn massieren lassen. Denn dieses Stück allein war kein Versprechen mehr. Es ist bis heute eine Offenbarung an Lärm, Blues, Punk und all der Kraft, die darin steckt.