Rauch. Überall Rauch. Ganze Lawinen stürzen heran, werden von einem Lichtgewitter zerhackt. Die Decke hängt tief über schemenhaft wippenden Köpfen. Rastas fliegen wie Nebelschlangen im Sekundentakt vorbei. Ein Hippie stolpert im Stroboskop als Zeitlupen-Alien in das enge Dunstfenster. Hautfarben verschwimmen. Die Luft zittert unter dröhnenden Frequenzen. Eine hektische, raue Stimme schneidet durch das Dickicht.
»What type of strategy? What terminilogy?
Dem a politician wid a new psychology
Invade your island, capture your country
Fuck ‘em up plenty
Seems like we livin’ in a mental slavery
When di paedophile haffi rape all mi pickney«
(»Politicians and Paedophiles« von The Bug ft. Daddy Freddy)
Und alles ist vom Bass durchdrungen. Unerbittlich, kompromisslos, brutal. Von allen Seiten drückt er auf die Sinne, verdichtet und zerstäubt Nebel und Körper. Als würde der enge Raum rasselnd atmen. In großen, schnarrenden Zügen kollabieren. Etwas in mir verrutscht.
Mehr Punk als Jungle
Für Kevin Martin alias The Bug war das der Zustand des Glücks. Und sein Album »Pressure«, das 2003 auf dem Braindance-Label Rephlex erschien, war der Versuch, diesen Zustand zu reproduzieren und ins Wohnzimmer zu verlängern. Er wollte wieder aufleben lassen, was er in den 1990er Jahren in Londons Dub-Clubs und Ragga-Nächten erlebt hatte. »Die Soundsystem-Kultur in Großbritannien, insbesondere in London, haben mich massiv beeinflusst«, erzählte er mir damals im Interview, dass ich für das Goon Magazin geführt habe. »Auf Dub Dances wurdest du von Sound schlicht so massiv ummantelt, dass du völlig überwältigt warst. Es fühlte sich an, als würden deine Innereien neu arrangiert werden. Die Musik bügelte einfach über deinen Intellekt hinweg und erwischte dich auf einem ganz fundamentalen, primitiven Level«.
Wenn The Bug ein Liveset spielte, ging es also um völlige Desorientierung in klaustrophobisch kleinen Clubs, deren Wände mit Bassboxen tapeziert waren. Obwohl »Pressure« 2003 erschien, orientierte sich The Bug nicht an den damals aufkommenden Sounds von Grime und Dubstep, die aus dem Jungle-Kontinuum hervorgingen. Seine Referenzpunkte waren Punk, Reggae und Ragga. Dementsprechend rollen auf seinem Album weniger Subbässe durch die Rillen, sondern ein schnarrender, knochentrockener, in Distortion getränkter Orkan an Sounds. Die Bässe schaukeln nicht im Subraum. Sie boxen die Körper blau. Statt synkopierter Beats mit 140 bpm wird zwischen 90 und 110 bpm zugeschlagen.
»Über all dem konnte es um Politik gehen. Es konnte meine gesamten Ansichten in Frage stellen – über meine Eltern, soziale Strukturen, warum ich Musik höre und was ich damit anfangen kann. Und gleichzeitig konnte es einfach Entertainment sein.«
The Bug
Die Freude am Lärm hat Kevin Martin aus seiner ersten Musikliebe mitgenommen: Punk. »Bands wie Discharge und Crass haben meine gesamte Musikwahrnehmung verändert. Es muss nicht alles um Melodie und Harmonie gehen. Es kann auch um Gegensätze gehen, um Atonalität, Lärm, Energie und Aufregung«. So war sein erstes Projekt zwischen 1991 und 1995 God, ein 12-köpfiges Ensemble zwischen Free Jazz, Noise Rock und Schreien.
Punk – und im gleichen Atemzug, weil der Luftraum damals nicht weit war, auch Reggae – zeigten Kevin Martin aber auch, dass zwischen all dem Sound, der den Intellekt zermalmte, mehr passieren konnte. »Über all dem konnte es um Politik gehen. Es konnte meine gesamten Ansichten in Frage stellen – über meine Eltern, soziale Strukturen, warum ich Musik höre und was ich damit anfangen kann. Und gleichzeitig konnte es einfach Entertainment sein.« Ragga war für Martin die Weiterentwicklung dieser gemeinsamen Wurzeln. Die Musik in all ihrer Rohheit formte eine Plattform für das Lyrische und Politische. »Reggae war schon immer politisch. Der Sound ist politisch, die Botschaft ist politisch. MCs wie Capleton und Sizzla reden über Diskriminierung, über die Gesellschaft. Gleichzeitig können sie im nächsten Track einfach nur Blödsinn reden.«
Die Message im Chaos
Diese Extreme haben Kevin Martin zum Ragga gebracht. Auf der einen Seite feiern, auf der anderen Seite aufbegehren gegen die Umwelt, gegen die Ohnmacht als Mensch oder Kultur, die mit karibischen Wurzeln in England oder Jamaika lebt. Wohl wissend, dass er als Weißer von der konservativen Südküste Englands diese Rolle nicht übernehmen konnte, überließ er die lyrische Komponente denen, die wussten, wovon sie sprachen. Im Jahr 2003 lebte Martin in Alperton, einem der ärmsten und diversesten Bezirke Londons, und erlebte täglich die Armut und den Rassismus des weißen Englands. Allerdings ohne diese Ausweglosigkeit selbst erleben zu müssen.
»Ich reflektiere diese Eindrücke durch den Sound als mein gewähltes Werkzeug«, der die Plattform für die Stimmlosen in der englischen Gesellschaft bildet. Die für sich selbst sprechen und nicht nur reflektieren. Und so sind es Daddy Freddy, Toastie Taylor, Roger Robinson, Paul St. Hilaire (noch als Tikiman), Singing Bird, Wayne Lonesome und He-man, die ihre Geschichten zwischen Party und Revolte in das Soundchaos werfen. Sie demontieren die englische Kolonialherrschaft, prangern die Doppelmoral an und erzählen zwischendurch einfach auch mal Dünnes. Das verbindende Element bleibt die Intensität auf Maximum, und die Vision aufzurütteln, zu feiern und zu desorientieren.