»Wenn man nicht gerade die Beatles ist, werden diese Geschichten nie erzählt«, sagt uns Yale Evelev von Luaka Bop im Intertview. Er meint die Geschichte von einem Album, das der Jazz-Musiker Pharoah Sanders 1977 aufnimmt – am Peak seiner frühen Karriere, mit einer gekappten Rockband, seiner Frau und einem überforderten Produzenten. »Pharoah« wurde zwar, wie Evelev sagt, zu einer der »wichtigsten Platten des 20. Jahrhunderts«. Doch Sanders, ohnehin niemand, der Zeit seines Lebens als Plaudertasche aufgefallen wäre, sollte bis kurz vor seinem Tod nie mehr darüber sprechen.
Pharoah Deluxe Edition
Yale Evelev und Eric Welles-Nyström von Luaka Bop konnten das Schweigen schließlich brechen. Sie arbeiteten mit Sanders an der offiziellen Neuveröffentlichung. »Er war nie glücklich, wie die Platte klang«, sagt Welles-Nyström. »Je mehr wir aber mit ihm sprachen, desto mehr erfuhren wir über die Umstände ihrer Aufnahme.« Sanders habe 1977 mit Bob Cummins, dem Labelgründer der New Yorker »Loft-Jazz«-Labels India Navigation, ein Album produzieren wollen. Beide hatten unterschiedliche Vorstellungen, die sie nicht geteilt haben, denn: Sanders tauchte mit einer Besetzung im Studio auf, die Cummins in jazziger Erwartung überforderte – E-Gitarre, Bass, das ganze Rock’n’Roll-Geschäft.
21 Minuten für die Ewigkeit
Als Sanders später die Aufnahme hörte, sei er entsetzt gewesen. Er sagte: Fuck it, wir probieren das noch mal. Tisziji Muñoz, den Sanders einige Jahre zuvor im berühmten New Yorker Jazz-Club Village Vanguard verpflichtet hatte, war 1977 bei der Aufnahme als Gitarrist dabei. Er erinnert sich, dass vor allem Cummins, der Produzent, viel Geduld mit Sanders gehabt habe. Gleichzeitig seien manche Aufnahmen im Eiltempo entstanden, mitunter sogar in »irgendeinem Wohnzimmer« – das ausufernd lange »Harvest Time« könnte zum Beispiel so aufgenommen worden sein.
Kein Wunder, dass uns Sanders vorhin noch schmachtend seine Liebe gestanden hat, jetzt führt er uns zum zweiten Date auf einen Schlachthof.
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Wie auch immer es gewesen sein mag: Schlagzeuger Greg Bandy hatte auf dem Stück 21 Minuten nichts zu tun. »Harvest Time« schlurft einfach los, zwei Akkorde an der Gitarre, am Bass und immer so weiter, weil Sanders nur meinte: Macht ihr zuerst. Ich mach dann auch. Also setzt das Saxophon hardböppelnd ein, um einen Moment einzufrieren. »Wenn ich das heute höre, fühlt es sich an wie an dem Tag, an dem wir es gespielt haben«, sagt Gitarrist Muñoz zu HHV. Das Stück bleibe lebendig, »lebendiger als eine Erinnerung«, denn es stecke eine »tiefe Form der Empfänglichkeit für den Sound im Moment« darin.
Wenn nach einer minimalmusikalischen Ewigkeit das Harmonium – gespielt von Bedria Sanders, der damaligen Frau von Pharoah – die Erntezeit ankündigt, ist man längst drin. Vor allem in der Liebesgeschichte zwischen den beiden, die dauert und vorbeigeht und währenddessen ein Gefühl auslöst, das keine Abkürzungen kennt. Man will da hinhören. Man sollte sowieso. Wer sich jeden Sonntag 20 Minuten Zeit nimmt, um sich das Stück in voller Länge reinzuziehen, wird ein erfüllter, ja, ein besserer Mensch sein.
Auch die schönste Sache der Welt hat zwei Seiten
Dass in Sanders immer zwei Saxophonisten steckten, ein süßholzraspelnder und ein sturmdränglerischer, zeigt »Love Will Find A Way«. Sofern der Coltrane-Kumpane darauf nicht gerade seine Stimmbänder zittern lässt und Gesangversuche nach Charles Mingus unternimmt, kreischt und quiekt der Schwanenhals. Es ist Pingpong zwischen den Extremen, so etwas wie bipolarer Jazz. Kein Wunder, dass uns Sanders vorhin noch schmachtend seine Liebe gestanden hat, jetzt führt er uns zum zweiten Date auf einen Schlachthof. So spannend ist das mit der schönsten Sache der Welt.
Für Sanders war »Pharoah« nicht nur ein Album, es war seine liebende Leidenschaft, im Spätsommer aufgenommen, als festgehaltener Wandel der Zeit – und damit »etwas Besonderes«, wie Welles-Nyström von Luaka Bop sagt. Auch deshalb seien die letzten Jahre belastend für Pharoah gewesen. Immer wieder erschienen ungefragt Bootlegs der Platte in schlechter Qualität. Ein Umstand, der Sanders so viel Schmerz bereitet habe, dass man kaum mehr mit ihm darüber reden konnte, so Welles-Nyström. »Von unserer Wiederveröffentlichung war er aber begeistert und spann mit uns sogar Ideen, die Stücke live zu spielen. Leider war das eine der letzten Unterhaltungen, die wir zusammen hatten.«