Große Alben kommen manchmal unbemerkt daher. So auch am 10. Februar 1998. An diesem Tag erschien »In The Aeroplane Over The Sea«, das surreale Liebeskind von Indie-Rock und Psychedelic-Folk, aufgenommen im Sommer des Vorjahres von Neutral Milk Hotel. Ein Sound, der geprägt ist von unkonventionellem (weil: meist schlicht nicht vorhandenem) Equipment und massiver Übersteuerung auf der gesamten Platte. Die Kritiker zeigten sich angetan bis maximal irritiert.
In The Aeroplane Over The Sea
Der britische Musikjournalist Dele Fadele schrieb damals für den NME: »Eine kranke und verwirrte Person wie Jeff Mangum sollte normalerweise nicht auf ein trinkendes Publikum losgelassen werden.« »In The Aeroplane Over The Sea« zeichnet sich neben seinem Sound vor allem durch Mangums Texte aus, die im konventionellen Sinne wenig bis gar keinen Sinn ergeben wollen – und doch so ziemlich alle Emotionen des Menschseins auslösen.
Ohne Sinn, alle Emotionen
Was auch an der Geschichte liegt: »In The Aeroplane Over The Sea« soll ein Konzeptalbum über das Leben von Anne Frank sein. Die fünfköpfige Band hat dies nie offiziell bestätigt, aber in den Texten und den wenigen Interviews finden sich genügend Hinweise. (Dass Anne Franks Schicksal ein Thema der Platte ist, haben sie allerdings nie bestritten). Dass Jeff Mangum nach der Lektüre von Anne Franks Tagebüchern drei Tage lang geweint haben soll, ist ein Mythos, der das Album umgibt.
Dazu passt die Geschichte, dass die Gruppe Monate vor den Aufnahmen bei einem Ausflug ins Musée Mécanique in San Francisco eine Doppelgängerin von Anne Frank gesehen haben will. (Nachzulesen in dem hervorragenden Beitrag von Kim Cooper für die »33 1/3«-Buchreihe). In einem Interview antwortete Mangum auf die Frage, ob ihr aktuelles Album und ihr vorheriges Debüt »On Avery Island« Konzeptalben seien: »Nein. Geschichten. Aber ich denke, eine Geschichte ist ein Konzept, nicht wahr?
»In The Aeroplane Over The Sea« bleibt bis heute eine emotionale Wiederauferstehung. Mangum schreit sich stellenweise durch die Songs, alles wirkt mehr oder weniger windschief, immer kurz vor dem Zusammenbruch.
Konzeptalbum hin oder her: »In The Aeroplane Over The Sea« bleibt bis heute eine emotionale Wiederauferstehung. Mangum schreit sich stellenweise durch die Songs, alles wirkt mehr oder weniger windschief, immer kurz vor dem Zusammenbruch. Aber es ist definitiv authentisch, ehrlich, mitreißend. Wenn Jeff Mangum sagt, er schreibe keine Songs im eigentlichen Sinne, sondern alles passiere in einem von außen kaum durchschaubaren Prozess in seinem Kopf, ja, dann passt das auf dieses Album. Albträume und Schlaflosigkeit während der Entstehung sind ein weiterer Teil dieser Geschichte.
Die Platte als Meme
Neutral Milk Hotel, Teil des Kollektivs Elephant 6, schufen mit »In The Aeroplane Over The Sea« nicht nur ein Meisterwerk des psychedelischen Folk – vor zehn Jahren entdeckte das Internet die Platte neu. Als Meme. Ein Moderator auf Reddit paarte das bekannte Gesicht des Covers mit einem T-Shirt im Stil von Animal Collectives »Merriweather Post Pavilion« und pinnte es als Hinweis (manche sagen: Warnung) für neue User in ein Musik-Unterforum. Zu diesem Zeitpunkt war die Platte längst Teil der damaligen Hipster-Neurose, der »Du verstehst das Album einfach nicht«-Diskussionskultur im Netz. Zahlreiche Memes, Tweets und Postings zum Album folgten. Die elf Songs faszinierten erneut und überlebten Häme und Ironie.
Denn »In The Aeroplane Over The Sea« bleibt ein eindringliches Album, dessen Sound bis heute unerreicht ist. Eine einzigartige Platte. Die Musiker hatten sich damals in Athen, Georgia niedergelassen (angeblich in einem mit Alufolie ausgekleideten Raum, noch so ein Mythos), das gute Bedingungen für Kreative bot. Das heißt: Aushilfsjobs, günstige Mieten, gute Plattenläden. Dass Neutral Milk Hotel seit »In The Aeroplane Over The Sea« kein Album mehr veröffentlichten und sich Jeff Mangum zeitweise aus der Öffentlichkeit zurückzog, tat sein Übriges.
Wer einen Einstieg sucht, sollte sich »Oh Comely« anhören, den achtminütigen Folk-Trauermarsch. Oder den unglaublichen Ohrwurm »Holland, 1945« mit seinen irrlichternden Bläsern. Oder sich gleich vom ganzen Album an einen anderen Ort tragen lassen. »In The Aeroplane Over The Sea« ist ein Sieg des Unbewussten und Unperfekten, des Sperrigen und Wahrhaftigen über all das andere Zeug da draußen, über den Optimierungswahn und das Polierte. Ein Album, nach dessen Hören sich die Welt anders anfühlt. Und genau deshalb gehört diese Platte zu den wichtigsten Alben der letzten Jahrzehnte.