Records Revisited: Move D – Kunststoff (1995)

07.02.2025
Wenn jemand Mitte der Neunziger noch gemeint haben sollte, dass Techno-Produzenten aus Deutschland vor allem für Teutonen-Stampf gut sind, lieferte Move D mit seinem Solodebüt »Kunststoff« 1995 endgültig den Beweis, dass Electronic made in Germany auf ganz filigrane Weise uplifting sein kann.

Zugegeben, man soll sich bei Musik nicht so an die Worte hängen, erst recht, wenn es sich um Musik ohne Text handelt. Doch wenn eine Platte einen Titel wie »Kunststoff« hat, kann man nicht umhin, den toll zu finden und vor dem genialen Vermischen verschiedener Begriffswelten kurz den Hut zu ziehen. Mitunter kann so etwas auch ein Hinweis darauf sein, dass die Person, die diesen Titel gewählt hat, mit den Klängen ähnlich findig umgeht.

David Moufang alias Move D gehört zu diesen Personen. Er hat nicht bloß sein Solodebüt von 1995 »Kunststoff« genannt, er hat es obendrein mit Musik gefüllt, die einem heute noch sehr viel zu sagen vermag. Ob es geholfen hat, dass Move D nicht aus einer der maßgeblichen deutschen Technostädte kam, sprich Frankfurt am Main, Köln oder Berlin, sondern aus dem neckarischen Heidelberg, sei dahingestellt. Es ergibt jedenfalls eine schöne Geschichte, wenn man sich vorstellt, dass ein junger Mann in einer Universitätsstadt ohne ausgeprägte Clublandschaft mit einem Freund, in dem Fall war es der Grafiker Jonas Grossmann, in den frühen neunziger Jahren auf eigene Faust ein Plattenlabel gründet, Source Records, und damit international Aufmerksamkeit erregt.

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Auf Source veröffentlichte Move D auch seine erste Soloplatte. Man könnte sie zunächst einmal als Erzeugnis ihrer Zeit hören. Die Produktionen scheuen sich nicht, ihren Einfluss durch elektronische Genres wie Intelligent Dance Music (IDM) kenntlich zu machen, einer Spielart, bei der das Tanzen oft gar nicht so im Mittelpunkt stand. Wobei sich entgegnen ließe, dass Move D mit »Kunststoff« allemal ein Beispiel intelligenter Tanzmusik bietet, die Verstand und Körper gleichermaßen anspricht.

Ein paar Stereotype über elektronische Musik aus Deutschland räumt er im selben Zug elegant aus dem Weg. Waren ›deutsche‹ Stromklänge doch international lange Zeit synonym mit den vermeintlich martialischen Werken Kraftwerks und vielleicht noch den sich endlos fortspinnenden Sequenzer-Orgien von Tangerine Dream, obwohl es historisch gesehen auch seit den Siebzigern mit Bands wie Cluster längst Musiker gab, die sich auf das Verspielte verlegten, statt sich kühl und streng zu geben. Bloß hatte sich das seinerzeit noch nicht so richtig rumgesprochen.

Künstliches Paradies, echte Lebensfreude

Mit Künstlern wie Uwe Schmidt, damals bekannt vor allem als Atom Heart, gab es in den Neunzigern andererseits schon Musiker in Deutschland, die parallel zum teutonischen Techno auch ernstzunehmenden Ambient im Sortiment hatten. Doch auf seinem Solodebüt verschaltet Move D die aufgelockerten Strukturen und quirligen Sounds von IDM zu etwas, das wirkt wie ein weiterer Dreh von kunststofflicher Musik, die rhythmisch im besten Sinne aufgekratzt ist. Das reicht von jazzigen Breakbeats (»Eastman«) über Downtempo-House-Rumpeln (»Tribute to Mr Finger«) bis zu Techno-Swing (»Amazing Discoveries«).

Seiner Faszination für Science Fiction und das Weltall gibt lässt Move D in ausgedehnten Trips wie »77 Sunset Strip« ungehemmten Lauf. Mit warm-wattigen Akkordwolken, spacig hallenden Blubberblasen und einer glockenspielartigen Kindermelodie begibt er sich sehr weit nach draußen. Erdung kommt von einem der am vertracktesten stotternden Beats der ganzen Platte, was die perfekte Ergänzung zur übrigen Schwerelosigkeit des Tracks ist.

Die Musik von Move D errichtet ein künstliches Paradies, ganz ohne von einer kaputten Zukunft zu künden oder sonstwie eine Gleichsetzung von elektronisch und bedrohlich zu suggerieren.

Move D

»77 Sunset Strip« bringt zudem wunderbar auf den Punkt, was Freunde dieses Albums seit jeher an ihm loben: Die Musik von Move D errichtet ein künstliches Paradies, ganz ohne von einer kaputten Zukunft zu künden oder sonstwie eine Gleichsetzung von elektronisch und bedrohlich zu suggerieren.

Move Ds dem Wort nach womöglich starr und hermetisch erscheinender »Kunststoff« erweist sich vielmehr als das komplette Gegenteil. Hier ist alles beweglich, durchlässig und atmet Leben ebenso wie Lebensfreude. Wohlgemerkt ohne doof-naiv zu sein. Optimisten gelten ja gegenüber Pessimisten als die dümmeren Menschen. Was auch nicht mehr als ein Vorurteil ist. Wenn überhaupt, dann ist »Kunststoff« ein Beispiel für die Überlegenheit optimistischer Intelligenz. Nicht umsonst zählt David Moufang die Beatles zu seinen größten Inspirationen. Er hat nicht von den Schlechtesten gelernt.