Karl Marx stellte ehedem fest, Georg Wilhelm Friedrich Hegel habe schon bemerkt, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereigneten: »Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« 2020 ist dementsprechend eine lange währende Posse – und Wiederholung geschichtshistorisch bedeutender Jahre und ihrer Ereignisse. Corona wird so zum beseelten Geist der Spanischen Grippe 1919, der Verschwörungsmob erinnert an das Ende der Weimarer Republik oder an die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen, die Spannung zwischen Ost- und Westeuropa ist eine Reminiszenz an längst vergessene Jahrzehnte des Kalten Kriegs.
Statt sich dieser Baisse zu ergeben, zeigt sich dieses Jahr doch von einer glänzenden musikalischen Seite – mit massig Premium-Releases. Doch auch hier steht die Wiederholung im Vordergrund: das Jazz-Revival zehrt aus der Zeit zwischen 1955 und 1975, die Singer-Songwriter*innen bedienen sich aus denselben Jahrzehnten und die elektronische Musik schlafwandelt durch die Neunziger. Des einen Leid, des anderen Freud, denn es gibt diese findigen Gesellen, die sich gut und gerne stundenlang mit Wiederholungen aller Art beschäftigen. Musiker, die Strukturen entdecken, diese dekonstruieren oder auf unbekannte Wahrheiten abklopfen; die von sich selbst behaupten, sie hätten »Wiederholungs-Tourette« (was das bedeuten soll klären wir gleich nochmal). Wir sprechen an dieser Stelle von Mouse On Mars, von Andi Thoma und Jan St. Werner, von dem lebendem Beweis, dass es IDM (also Intelligent Dance Music) auch aus Deutschland geben kann. Der Düsseldorfer und der langjährige Wahlkölner, die es mittlerweile nach Berlin verschlagen hat, zeigten ihren Hang zum Loop schon 1994 mit der EP »Frosch« und dem Album »Vulvaland«. Diesen Doppeldurchbruch beim englischen 4AD-Ableger Too Pure, der vor allen Dingen in Köln und außerhalb Deutschlands rezipiert wurde, feierten Thoma und Werner mit der Arbeit an »Iaora Tahiti«.
War »Vulvaland« noch von einem kruden und störrischen Downbeat getragen, zog der Nachfolger die Schrauben ein Stück fester: dreister, witziger, stilvoller, eleganter, komplexer, schwungvoller – einfach insgesamt besser. Gleichsam laufen all diese solche Kategorien, wie so oft bei Mouse On Mars, ins Leere. Denn was ist schon komplexer in einem Sounduniversum, das sich darauf spezialisiert hat mit den kompliziertesten Mitteln die einfachste Musik zu erzeugen, wie der Spex-Autor Felix Klopotek mal schrieb? Ein Beispiel gefällig? »Die Innere Orange«, ein Stück, das sich nicht auf dem Original, sondern ausschließlich auf der Kassetten-Version des Albums wiederfand, ist ein ganz wunderbares Exempel für Musik, die es stets schafft auf hohem Niveau zu versanden, in der Albernheit zu glänzen. Die Kölner No-Fi-Legende Harald »Sack« Ziegler berichtet nach einem vierminütigen Intro aus elektrostatischen Sound von der titelgebenden, mysteriösen Frucht. Was sich genau dahinter verbirgt, bleibt dennoch unklar. Es könnte sich um die Seele, vielleicht auch um ein deleuzianisches Rhizom handeln; womöglich ist es letzten Endes bloß eine Zitrusfrucht, die Erinnerungen speichert. Was auch sonst?
Wo sich heute Deconstructed Club Musik und Complicated Dance gerne durch überbordenden Post-Genuss profilieren, Konzept und formale Mittel im Vordergrund stehen, zeigt »Iaora Tahiti« vor allen Dingen Herz.
Die Verweise, die hier gesteckt und gestrickt werden, haben verdammt noch mal vieldeutig zu bleiben – so funktioniert die Welt des Duos. Wer möchte, darf das gerne auch am Begriff »Wiederholungs-Tourette« eruieren: Es soll bedeuten, dass Thoma und Werner als Wiederholungstäter Loops stets weiterentwickeln müssen. Wo Sounds in ihrer Urform anderen Musiker*innen reichen würden, schrauben Mouse On Mars fast schon krampfhaft immer weiter, starten Attacken auf die Loops. Ihre Waffen drohen den Fragmenten: Der Angriff wird mit vielerlei Instrumenten wie Phasern, Delays, Equalizern vollzogen. Dazu gesellen sich dann weitere Sounds aus Synthesizern, Programmen, Apps oder Soundquellen; so wird immer weiter geschraubt bis das Ausgangsprodukt sich soweit verändert hat, dass es nicht einmal mehr als bloße Spur im Endstück erscheint. Und doch gibt es eine geisterhafte Fernwirkung.
Schon beim ersten Nachhör-Erlebnis, ein Vierteljahrhundert nach Erscheinen, fällt die Lustfreundlichkeit des Albums auf. Wo sich heute Deconstructed Club Musik und Complicated Dance gerne durch überbordenden Post-Genuss profilieren, Konzept und formale Mittel im Vordergrund stehen, zeigt »Iaora Tahiti« vor allen Dingen Herz. Dieses schlägt sich dann wiederum in den Tracks wahlweise als Groove, als Grinsen, als Swing oder als verdrehter Jux nieder. Der beste Beweis dafür ist der Albumtitel selbst: »Iaora Tahiti« verweist auf das gleichnamige Album des Tahitianisch Orchesters Arthur Iriti aus dem Jahre 1968. Dieses wiederum beinhaltete das Lied »Nau Haka Taranga«, welches – hier kommt dann der intertextuelle Referenzjoke ins Spiel – dem Kölner Produzenten Horst Nussbaum aka Jack White als Vorlage diente für Tony Marshalls Durchbruch-Hit »Schöne Maid«. Eine andere (pop-)musikhistorische Spielerei stellt das Stück »Schunkel« dar, das auf der Album-Cover-Rückseite als »inspiriert vom Peter-Thomas-Sound-Orchester« beschrieben wird; Peter Thomas war der Komponist der Musik zur TV-Serie »Raumschiff Orion«.
Ob solche Zitate ernst gemeint sind, das wissen wir nicht – Jahre später bewiesen sie als Produzenten auf Stereolabs Meisterwerk »Dots And Loops« ihre Vorliebe zur Soundtrack-Musik der Sechziger und Siebziger. »Iaora Tahiti« ist ein Album, dass schon vor 25 Jahren altbacken und krypto-futuristisch zugleich war. Ein Beweis, dass Geschichte sich vielleicht wiederhole – genügend Platz für Veränderung (auch zum Besseren) gibt es dennoch. Vielleicht lässt man die beiden nochmal am Jahr 2020 schrauben. Ein Versuch wäre es wert.
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