Es sind bloß fünf Titel unter 45 Minuten. Die Namen der Tracks? Scheinen eher zufällig gewählt. Die Aufnahmen? Fanden in wenigen Stunden an zwei Tagen im CBS 30th Street Studio in New York City statt. Die erste Session am 2. März 1959 fand ihr Ende, weil um 22 Uhr das Jimmy Dorsey Orchestra für Aufnahmen ins Studio kam. Die zweite Session fand erst eineinhalb Monate später statt. Und überhaupt: Es ahnte kein beteiligter Musiker, dass die so entstehenden Aufnahmen mehr als nur Musikgeschichte schreiben würden.
Kind Of Blue
Ende der 1950er Jahre ließ sich bereits erahnen, dass Miles Davis nicht nur den Jazz verändern würde, dass er Größeres im Sinne hatte. Genervt von den hektischen Fingern des Bebop, die über die Instrumente fliegen und durch die Akkorde feuern, suchte Davis nach einer neuen Ausdrucksform, einer Umwandlung des Jazz, wie ihn die Welt kennt. Denn der bisherige Stil beschnitt Davis in seiner Kreativität. Die Lösung: Ausbruch über den Modalen Jazz, der eben mit verschiedenen Modi funktionierte. Und deutlich langsamer, satter, organischer daherkam. »Die Herausforderung besteht bei der modalen Art darin, wie erfinderisch Du melodisch werden kannst«, schrieb Davis über den Wechsel in seiner Autobiographie dazu.
Zum ersten Mal probierte Davis den Ansatz auf dem Titeltrack seines Albums »Milestones« aus – und schon da waren sich einige Jazzkritiker sicher, dass sie damit die Zukunft des Jazz gehört hatten. Ein Jahr später mussten sie ihre Meinung revidieren. Weil »Kind Of Blue« diese Idee dann in Perfektion ausformulierte, weil mit »The Shape Of Jazz To Come« von Ornette Coleman und »Mingus Ah Um« von Charles Mingus zwei weitere Alben erschienen, die Jazz in noch einmal vollkommen neue Richtungen brachten und dabei völlig anders klangen. Und doch: Wer wissen will, wie sich Zeitlosigkeit anhört, legt »Kind of Blue« auf.
Wer wissen will, wie sich Zeitlosigkeit anhört, legt »Kind of Blue« auf.
Über all die musiktheoretischen Hintergründe lassen sich genug Artikel und Essays finden. Mit »Kind Of Blue. The Making Of Miles Davis Masterpiece« von Ashley Kahn gibt es sogar ein ziemlich ausführliches Buch über all die Zeit vor, während und nach der Aufnahme. Bereits 1959 nahm die Welt das Album sehr positiv auf. Allerdings ließ Davis bereits nur die Musik für sich sprechen. »Kind Of Blue« lagen mit den Liner Notes nur ein paar Zeilen von Pianist Bill Evans bei, nicht wie bei anderen Platten ganze Aufsätze von Kritikern oder Journalisten. Im San Francisco Examiner erschienen kurz nach Veröffentlichung im August 1959 vielleicht die ehrlichsten und schönsten Worte zu »Kind Of Blue«: »Es ist eine von Miles‘ großartigen Aufnahmen, vielleicht seine beste Platte seit seinen Tagen mit Bird. Kauf sie und spiele sie ab, leise, gegen Mitternacht.« Von Davis selbst gibt es kaum Aussagen generell über seine Musik und zu »Kind Of Blue« im Speziellen.
Musik, Mythos, Meisterwerk
Warum dieses Album bis heute funktioniert, wirkt, wächst und bei jedem Abspielen anders klingt, hat mit seiner Entstehungsgeschichte zu tun, eben damit, dass Miles Davis heute, seine Musik zu erklären, dass von jenem CBS 30th Street Studio, einer ehemaligen Kirche, heute nichts mehr übrig ist, mit Geschichten, wie jener: Eine Störung der Masterbandmaschine sorgte dafür, dass die Musik sich ein wenig höher als im Original anhörte. Der Fehler fiel für über drei Jahrzehnte niemandem auf. Nicht einmal Miles Davis und seinen Mitmusikern. Erst durch die Sicherheitskopie ließ sich die Sache Anfang der 1990er Jahre beheben. Die Musik steht für sich, der Mythos zum Album ebenfalls. Doch es gibt keine Deutungen und Interpretationen, die zeitliche Distanz zum Ende 1950er Jahre ist so weit, dass sich auch kaum Zeitgeschichtliches dafür heranziehen lässt.
Daneben schrieb schon jener Kritiker damals im San Francisco Examiner: »Als Hörer wirst Du zustimmen, dass dies Jazz ist, der sich aller Wahrscheinlichkeit nach niemals duplizieren lässt.« Bis heute beeinflusst dieses Album zahlreiche Künstler auch außerhalb des Jazz, Versatzstücke lassen sich als Samples bei Erykah Badu, Mos Def und J Dilla finden.
Miles Davis sagte 27 Jahre nach den Aufnahmen in einem seiner wenigen Interviews: »Ich möchte nicht, dass Sie mich wegen Kind Of Blue mögen. Mögen Sie mich für das, was ich jetzt tue.« Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Musik bereits noch ein paar Mal verändert. Doch niemand hört heutzutage dieses Album aus Gründen der Nostalgie. Es ist jenes Jazzalbum, das den Geist für das Genre vorbereitet.
Bei ihrem Erscheinen vor 60 Jahren war diese Platte eine Provokation, eine Innovation, ein Bruch. Obwohl die Musiker nicht diese Absicht hatten. Die Stücke entstanden sehr spontan, Davis teilte ihnen seine Ideen erst kurz vor den Aufnahmen mit. Bei manchen späteren Aussagen liest es sich so, als wäre es für das Sextett ein Job wie sonst gewesen. Doch gab vielleicht gerade dieser Ansatz erst die nötige Freiheit für dieses Meisterwerk. Wenn es nur ein Album gibt, das man im Leben gehört haben muss, so ist es »Kind Of Blue«. Zeitlos, groß, mehr als nur Musik. Eine Geisteshaltung, ein Gefühl, ein Geniestreich. In bloß fünf Titeln unter 45 Minuten. Die Ewigkeit hörte sich nie schöner an.