Records Revisited: Midori Takada – Through the Looking Glass (1983)

01.05.2023
Ein Klassiker, den lange Zeit kaum jemand kannte: Mit ihrem Solodebüt »Through the Looking Glass« schuf die japanische Perkussionistin Midori Takada eine ganz eigene Ambient-Welt aus Minimal Music, afrikanischen Traditionen und Gamelan.

Als diese Platte vor sechs Jahren wiederveröffentlicht wurde, zum ersten Mal seit 1983 und zum ersten Mal neben Vinyl auch auf CD, waren weder Midori Takada noch ihr Solodebütalbum »Through the Looking Glass« jenseits eingeweihter Sammlerkreise bekannt. Schon gar nicht außerhalb Japans. Doch ob etwas ein Klassiker ist oder nicht, entscheiden nicht unbedingt die Verkaufszahlen. Ob sich allerdings etwas aus Fernost im Rest der Welt durchsetzte, entschieden damals nicht zuletzt die Vertriebswege.

Die japanische Perkussionistin Midori Takada absolvierte ihre erste künstlerische Station in den 1970er Jahren in Berlin als Schlagzeugerin des RIAS-Symphonie-Orchesters. Mit dem hiesigen Orchesterrepertoire war sie bald unzufrieden und zog zurück nach Japan, wo sie sich, plot twist, mit afrikanischen Traditionen wie Afrobeat, aber auch indonesischem Gamelan und Minimal Music beschäftigte. In dem von ihr gegründeten Mkwaju Ensemble verband sie diese Einflüsse zunächst zu einer sehr idiosynkratischen Avantgarde-Jazzform, musste die Band nach zwei 1981 erschienen Alben aber aus finanziellen Gründen auflösen.

Das geplante dritte Album spielte sie daher im Alleingang ein. Ob auch diese personelle Notlage für »Through the Looking Glass« jetzt ein künstlerischer Glücksfall war oder nicht, ist im Nachhinein schwer zu sagen. Geschadet hat es dem Ergebnis zumindest nicht. Takada eignet sich ihre verschiedenen Einflüsse völlig eigenständig an zu etwas, das zu gleichen Teilen Ambient, Ethnomusik und Avantgarde ist, ohne wie eine Kopie der Vorlagen zu klingen.

Marimba, Gong und Tamtam

In den vier Nummern auf »Through the Looking Glass« dominieren ruhige Stimmungen. Der zwölfminütige Auftakt, »Mr. Henri Rousseau’s Dream«, evoziert eine Gamelan-Zeremonie, Dschungel, Völker. Neben ihrem Hauptinstrument, der Marimba, und Gong und Tamtam als weiteren Perkussionsinstrumenten, kommen auch Blockflöte und Okarina zum Einsatz, von Takada wie Vogelstimmen gespielt.

Etwas enger, dafür nicht weniger ausgeruht, ist die zweite Nummer, »Crossing«. Aus der Kombination Marimba, Kuhglocke und Harmonium entsteht eine Variation auf die perkussiven Werke Steve Reichs, insbesondere »Five Marimbas«, wobei Takada eine ungewöhnliche Spannung zwischen Gelassenheit und Aufgeladensein erzeugt. Doppeltöne der Marimba wiederholen sich zunächst wie insistierend, scheinen nicht voneinander loszukommen. Erst nach und nach gesellen sich weitere Töne hinzu, ihr Rhythmus verschiebt sich in permanenter Bewegung.

Aus der Kombination Marimba, Kuhglocke und Harmonium entsteht eine Variation auf die perkussiven Werke Steve Reichs.

Mit »Trompe-l’œil« scheint sie die Tonrepetitionen von »Crossing« und die Vogelstimmen vom Anfang zusammenzuführen, diesmal kommt statt Blockflöte eine Colaflasche zum Einsatz, die an Eulenrufe denken lässt, zu denen in der Tiefe die Töne eines Harmoniums kreisen.

Seinen großen Einsatz hat das Harmonium im abschließenden »Catastrophe Σ«, wo es brodelnd das titelgebende Unheil ankündigt. Das Stück, mit 15 Minuten das längste der Platte, baut sich langsam auf, durchläuft verschiedene Stationen, in denen auch introvertierte Klavierfiguren für kurze Zeit eine Zwischenschicht bilden, bevor die unerbittlich bearbeiteten Tomtoms die Oberhand gewinnen und bis zum abrupten Schluss die große Umwendung einläuten.

Spätestens im letzten Viertel gibt sich Midori Takada als Künstlerin zu erkennen, die in ihrer Musik nicht bloß den Auftrag sieht, ihr Publikum gepflegt im Halbwachzustand zu halten, sondern Aufmerksamkeit mitunter einfordert. »Through the Looking Glass« kann man am besten als eine in sich zusammenhängende Suite hören, als ein Werk in vier Sätzen, von denen jeder seinen spezifischen Charakter hat und emotional ganz unterschiedliche Dinge auslöst. Schließlich setzt das, was man pompös »große Musik« nennt, gelegentlich voraus, dass man sich selbst ein wenig strecken muss.