Manchmal muss man eine Platte anhand des Covers judgen: »Marcos Valle« von Marcos Valle richtet die Saftbar ein, die Fußballerfrisur sitzt. Valle, der brasilianische Lockenkopf aus Rio, grinst verschmitzt in die Kamera; die Hand an einem Drink, der so türkisfarben glänzt, als hätte man die Wellen an der Copacabana in ein Cocktailglas gespült.
Marcos Valle Black Vinyl Edition
Marcos Valle ist ein brasilianischer Nationalheld. Der Mann, der mit 79 noch immer so aussieht, als wäre Björn Borg in den 80ern vom Tennisplatz auf die Rockbühne gewechselt, hat in 60 Jahren über 100 Alben veröffentlicht. Ob Samba oder Bossa Nova, Boogie oder Funk, Fahrstuhl-Heaven oder Schlager-Heiterkeit – Valle hat in seiner Karriere so ziemlich jede Discokugel zum Drehen gebracht. Sich auf eine Platte seiner Diskografie festzulegen, käme einem All-Inclusive-Urlaub ohne Buffet-Zugang gleich. Dass ausgerechnet »Marcos Valle« von 1983 Kultstatus genießt, hat trotzdem seine Gründe.
Die Platte feiert das Leben zwischen Jetset und Jacuzzi, schlendert in Leinenhosen unter Palmenhainen, schmust zum Sonnenuntergang und winkt zum Abschied von der Poolparty – alles festgehalten in Full-VHS. Die ganze Zeit fragt man sich deshalb: Wie nahe können sich Samba und Saudade aneinanderschmiegen? Marcos Valle hat mit seinem Album, das vor 40 Jahren auf dem Brasilo-Label Som Livre erschien und zuletzt von Mr. Bongo neu aufgelegt wurde, Sommer, Sonne, Strand und Säuseln eingesackelt, in den Mixer gestopft und auf zwei Vinylseiten gekippt.
Für immer einen Platz an der Sonne
»Marcos Valle« ist ein Vibe, den man nicht beschreiben kann, sondern fühlen muss. Klingt patético, aber: Was bringt es, wenn man über die Bassline auf »Estrelar« schreibt, ohne dabei den Beckenboden zu kreiseln? Warum sollte man flatternde Hawaii-Hemden auf kilometerlangen Sandstränden erklären, ohne sich auf »Samba de Verão« den zweiten Caipi reinzuzwirbeln? Und ist man überhaupt zur Liebe fähig, wenn man nicht zu »Mais Que Amor« in Zweisamkeit unterm Zuckerhut versinken möchte?
»Wer sich nicht aufrichtet, hat keinen Platz an der Sonne.« So hat es Valles Bruder Paulo Sérgio im Glitzer-Glanz-und-Gute-Laune-Hit »Estrelar« gedichtet. Auch gut: »Bodybuilding, Atmung, Luft in der Lunge.« Bei dieser Pulitzerpreis-verdächtigen Poesie kann einem schon mal die Speedo in die Ritze rutschen. »Es muss sich dehnen, es muss sich biegen, es muss passen« bekommt mit ein wenig Fantasie im Ferienparadies sogar Zungenschnalzer-Qualität. Kein Wunder, dass inzwischen sogar die TikTok-Kids mitschnackeln.
»›Bodybuilding, Atmung, Luft in der Lunge.‹ Bei dieser Pulitzerpreis-verdächtigen Poesie kann einem schon mal die Speedo in die Ritze rutschen.«
Bevor der Lendenbereich überhitzt, kippt man sich das nächste Tutti-Frutti-Gemisch in die Rippen. »Para Os Filhos de Abraão«, das heimliche Meisterwerk der Platte, zerstampft Eiswürfel im Viervierteltakt, schüttelt den Bass, bis er stockt und vermischt das flüssige Diabetes mit einer Melodie, für die man zur Falsetto-Bridge die Christusstatue mimt. Weil sich manche Dinge besser nie ändern, dreht sich das Ding heute wie vor 40 Jahren mit Banane-Kirsch-Geschmack auf dem Plattenteller!
Übrigens: Dass Marcos Valle einige Jährchen vor dem Release von »Marcos Valle« fast Marlon Brando verprügelt hätte, weil der Schauspieler seine Freundin angebraten hatte, kommt beim nächsten Speed-Dating-Smalltalk sicher super an. So bleibt einem zukünftig genügend Zeit, um gedankenverloren aus dem Fenster zu blicken, während man daran denkt, wie Marcos Valle auf dem Balkon seines 4.000-Quadratmeter-Penthouses steht und seine Fruchtsäfte nach Sommermonaten ordnet.