Records Revisited: Keith Jarrett – The Köln Concert (1975)

24.01.2025
Keith Jarrett fand in Köln nichts so vor, wie er sich das vorgestellt hatte. Er nahm die irdischen Probleme an und spielte sich in den Himmel. Sich und alle Anwesenden. Und die millionenfachen Käufer*innen, die bis heute »The Köln Concert« kaufen.

Aus schlechten Filmen lernt man mehr als aus guten. So behauptet zumindest ein Bonmot. Wenn das stimmt, dann sollte der Film »Whiplash« zur Pflichtlektüre für angehende Musiker*innen und Kritiker*innen werden. Darin wird ein junger Jazz-Schlagzeuger – und mit ihm eine ganze Big Band – von einem patriarchalisch-autoritären Dirigenten so lange gedrillt, gedemütigt und körperlich misshandelt, bis er sich entschließt, auszusteigen. Es geht um Perfektion, Selbstoptimierung, Drive und Hingabe. Laut dem Film kann Qualität nur dort entstehen, wo Qual alltägliches Brot is. Als hätte die Moderne nicht hundertfach bewiesen, dass Bedeutendes auch ohne Meisterhaftigkeit und ohne Gewalt entstehen kann.

Womit wir bei Keith Jarretts Jahrhundertwerk »The Köln Concert« wären. Denn dieser Konzertmitschnitt lässt vieles und auch Grundsätzliches vermissen, was »Whiplash« uns weiß machen möchte, und predigt: Es ist nicht der autoritäre Charakter die technische Verwüstung, die »The Köln Concert« zur bis heute meistverkauften Solo-Jazzplatte aller Zeiten macht, sondern ein spürbarer Spirit, den man trotz aller Zweifel an solchen Konzepten als Magie bezeichnen muss.

Um zu diesem metaphysischen Kern vorzudringen, ist es notwendig, zunächst die sehr irdischen Probleme, Hindernisse und Besonderheiten dieser Aufnahme zu schildern. 

Im Bann der Improvisation

Wir schreiben das Jahr 1975. Den 24. Januar, um genau zu sein. Am Abend zuvor hate Jarrett, der zwar schon 1970 »high as a kite« in Miles Davis‘ Band – wir erinnern uns an das Isle of Wright-Festival – das E-Piano spielen durfte, aber gerade erst auf dem Weg zum Star eigenen Rechts war, noch ein Konzert in der Schweiz gegeben, und fährt nun, in den frühen Morgenstunden, mit einer alten Klapperkiste über die Autobahn Richtung Köln. Hungrig und übernächtigt erreicht Jarrett Köln – und findet in der Kölner Oper den falschen Flügel vor. Statt eines erstklassigen Konzertflügels steht aufgrund eines Kommunikationsfehlers ein verstimmter und kaputter Übungsflügel auf der Bühne; ohne Aussicht auf eine kurzfristige Behebung dieser doch entscheidenden Widrigkeit. Beim Probespiel trifft ihn der Schlag, ein Pedal streikt, außerdem sind einige Tasten nicht voll funktionsfähig.

Das eilig herbeigeschaffte Instrument leidet so sehr, dass es noch schlechter klingt als der bereits vorhandene Übungsflügel.

»Das Konzert muss abgesagt werden!«, ist Jarrets Reaktion. Die erst 18-jährige Veranstalterin und spätere deutsche Jazz-Legende Vera Brandes bittet ihn, aufzutreten, sie werde ein besseres Instrument mitbringen. Das klappt, schließlich liegt eine Musikschule nur wenige Gehminuten von der Oper entfernt in der Innenstadt. Auf dem holprigen Weg (denn ein ordentlicher Transport war schließlich nicht mehr möglich) und unter dem Einfluss der eisigen Temperaturen in der sonst eher milden Domstadt leidet das eilig herbeigeschaffte Instrument so sehr, dass es noch schlechter klingt als der bereits vorhandene Übungsflügel. Jarrett hat sich ohnehin mit seinem Schicksal abgefunden und längst eine Idee. Aus der Not eine Tugend machen. Die besonderen Bedingungen sollten nicht länger als Unmöglichkeit oder Ausrede gelten, er wollte sie vielmehr in sein improvisatorisches Spiel einbeziehen.

Das Ergebnis riss nicht nur die Zuhörerschaft am Abend in Köln mit, sondern, wie bereits eingangs erklärt, sondern bannt bis heute Millionen Tonträgerkäufer*innen in ihren Wohnzimmern vor diese Musik.

Hochgefühle dank tiefer Zuneigung

Doch was macht die Magie des Kölner Konzerts aus? Es ist nicht die Improvisation, es ist auch nicht das Solospiel. 1975 hatten viele Top-Jazzmusiker*innen längst Solokonzerte gegeben, der Saxofonist Sonny Rollins hatte schon zehn Jahre zuvor Solo-Improvisations-Konzerte gespielt. Ebenso wenig ist die Platte von außerordentlicher musikalischer Brillanz, auch nicht von großem Avantgardismus; sie ist nicht overworked

Jarrett war bis zu seinen Schlaganfällen vor wenigen Jahren bekannt als ein einfallsreicher, aber nicht unbedingt erfinderischer Pianist, kein genialer Geist, dessen Originalität in meisterhaften Eskapaden liegt, sondern in einer sehr sensiblen Zuneigung zum Klavier. Das beweist er hier, wenn er im ersten Teil aus einem einfachen Grundmotiv (dem Pausengong der Oper) eine etüdenhafte Spielhaltung entwickelt, die nicht unbedingt vom Jazz der siebziger Jahre geprägt ist, sondern sich locker auf dem schmalen Grat zwischen schwarzer, amerikanischer und weißer, europäischer Tradition bewegt und tänzelt. Dass er damals ohne festes Repertoire antrat, sondern seine Konzerte von Grund auf neu erfand und sich schon oft musikalisch mit äußeren Umständen auseinandergesetzt hatte, sollte sich als Vorteil erweisen.

Nach etwa zehn Minuten groovt Jarrett los, immer wieder hört man das eigene Ächzen, Stöhnen und Grunzen, die von der Geschäftigkeit und Beseelung des Pianisten künden, die von einer fast transzendenten Nähe zum eigenen Spiel erzählen: Jarrett entführt in eine klangästhetische Erzählung und ist längst tief im Flow.  Diese Verschmelzung mit den Tönen nimmt im zweiten Teil (»Part IIa«) vollständig die Zügel in die Hand; Jarrett verfolgt nun bluesige Bezugspunkte, fliegt derweil auf einem rhythmischen Ostinato durch die ersten Minuten und bricht bald ein. Elegisch geht die Platte zu Ende, schwirrt in »Part IIb« nochmal durch die Luft, wird minimaler und lädt schließlich zur Kontemplation ein. »The Köln Concert« war lange Jahrzehnte der Stolz eines jeden audiophilen Liebhabers sogenannt großer Alben. In den letzten beiden Jahrzehnten hat der Mythos »The Köln Concert« etwas gelitten; eine Entwicklung die immer wieder Platten vor ihrer Wiederentdeckung vollziehen müssen. Das 50. Jubiläum ist indes ein mehr als willkommener Anlass wieder in dieses eigenartige, inspirierende Stück Musik reinzuhören. Dafür kann man sich den Videoabend zu »Whiplash« sparen.