Records Revisited: Kate Bush – Hounds Of Love (1985)

16.09.2020
Auf ihrem selbstproduzierten, fünften Studioalbum erklimmt Kate Bush den Gipfel ihres Autoren-Art-Pops. Ihre Synthese von digitaler Klanggestaltung und Folk-Elementen zeitigt ein Album, das einem Jahrhundertroman gleichkommt.

Seien wir ehrlich: Viele Langspielplatten sind eigentlich ein kurzes Vergnügen. Manchen widmet man ein, vielleicht auch zwei Stunden seiner Zeit und geht dann zu anderem über. Die meisten werden sogar nicht mal komplett durchgehört, sondern auf die jeweiligen persönlichen Favoriten hin abgetastet, die allerdings nicht notwendig mit den möglicherweise als Single ausgekoppelten Hits identisch sein müssen. Und dann gibt es dagegen noch eine Sorte Alben – eine in der quantitativen Betrachtung nahezu verschwindende Minderheit im Vergleich zu den bereits erwähnten Kategorien von LPs –, die, einmal aufgelegt, den Plattenteller auf lange Zeit nicht mehr freigeben. Kaum durchgelaufen, werden sie schon wieder umgedreht. Nicht selten finden sie sich auch auf andere Medien überspielt, die der Form der Endlosschleife ähnlicher sehen als die Schallplatte. »Hounds Of Love« ist solch ein Album.

Als Kate Bush vor 35 Jahren, im September 1985, ihr fünftes Studioalbum veröffentlichte, war sie längst mehr als ein Weltstar: Vom Pink-Floyd-Gitarristen David Gilmour gefördert, seit ihm die selbst vertonten Gedichte der seinerzeit 15-jährigen Catherine Bush zu Ohren gekommen waren, wurde sie 1976 von EMI unter Vertrag genommen – da war sie gerade 18 geworden. Zwei Jahre später erschien »The Kick Inside«; mit der vorab veröffentlichten, von Emily Brontës gleichnamigem Roman inspirierten Single »Wuthering Heights«, wie alle Songs ihres Debütalbums von Kate Bush selbst geschrieben, eroberte zum erste Mal die Eigenkomposition einer Frau den Spitzenplatz der britischen Single-Charts.

Die folgenden Alben »Lionheart« (1978), »Never For Ever« (1980) und »The Dreaming« (1982) konnten zwar nicht ganz an den kommerziellen Erfolg von »The Kick Inside« anknüpfen, wohl aber ihren Ruf als Ausnahmekünstlerin festigen. Jenseits der gängigen Register von Synth-Pop und Art- oder Prog-Rock hat Bush sich ein eigenes Genre erschaffen, das trotz ihres stets ausgeprägten Interesses an Folk-Elementen jedem Versuch einer Reduktion widerstand.

Ähnlich eigenwillig und komplex verhält es sich mit der Themenwelt ihrer Texte: Märchen- und Sagenmotive gehen darin eine spezifische Mischung mit dezidiert feministischen, gesellschaftskritischen Positionen ein, was ihr auch früh den Status einer LGBTQ-Ikone einträgt. Den damals üblichen Verwertungsmechanismen hingegen entzieht sie sich bald konsequent – die »Tour of Life« im Frühjahr 1979 wird ihre einzige bleiben. Mit der Produktion von »Never for Ever« beginnt Bush, sich mit dem Fairlight CMI zu beschäftigen, dem ersten digitalen Synthesizer mit Sampling-Funktion, dessen Vorzüge sie als Backgroundsängerin auf Peter Gabriels drittem Soloalbum kennenlernt. Bereits die Credits von »The Dreaming« weisen Kate Bush als alleinige Produzentin aus.

Künstlerisch anspruchsvoll und herausfordernd, bleibt die Platte zur Enttäuschung von EMI hinsichtlich der Verkaufserlöse hinter den Vorgängeralben zurück. Bush kehrt daraufhin der großen Öffentlichkeit den Rücken und verlegt ihren Lebensmittelpunkt von London in ein kleines Landhaus an die Küste von Sussex, wo sie sich ein professionelles 48-Spur-Studio in einer Scheune einrichtet. Ab Januar 1984 entstehen hier die Songs von »Hounds Of Love«, das trotz der singulären Stellung ihres Frühwerks sowie der enormen Relevanz ihrer beiden nach der Jahrtausendwende veröffentlichten Alben »Aerial« und »50 Words For Snow« vielen Fans als ihr bis dato unerreichtes Meisterwerk gilt.

»Hounds Of Love« sei das »St. Pepper« des Digitalzeitalters, so der US-amerikanische Journalist Barry Walters – ein Autorenalbum, wie es nur einmal in einer Dekade vorkommt

Tatsächlich ist »Hounds of Love« auch ihr bislang erfolgreichstes Album. Allein schon die Eröffnung »Running Up That Hill (A Deal with God)«, mit seinem unwiderstehlich rollenden und nur ganz selten, dafür aber an den dramaturgisch genau richtigen Stellen und damit umso wirkungsvoller variierten Highland-Drumbeat und den genialen Zeilen »And if I only could / I’d make a deal with God / And I’d get him to swap our places« jagt einem jedes Mal aufs Neue einen Schauer über den Rücken – ein Song für die Ewigkeit.

Zweifellos ein Liebeslied, stellt »Running Up That Hill« allerdings Fragen wie: »Is there so much hate for the ones we love? / Tell me, we both matter, don’t we?« Analog dazu unterlegt sie ihr glockenhelles Timbre mit nach unten transponierten Spuren ihrer Stimme, unterläuft damit sowohl ihr Image als auch Genderschranken mittels Klangsynthese und digitaler Versionen ihrer selbst.

Mit dem Titelstück, »The Big Sky« und »Cloudbusting« folgen ihm drei weitere, ebenfalls als Single ausgekoppelte Hits, die – auch darin offenbart sich Bushs poetologische Konzeption – wie Kapitel eines Romans gleichzeitig abgeschlossen wirken und doch aufeinander bezogen sind; jeder einzelne wäre ein eigenes Essay wert. Dazwischen findet sich mit »Mother Stands for Comfort« einer der berührendsten Songs, dieses von vorne bis hinten berührenden Albums, der gleichzeitig bereits einen Ausblick auf die komplementäre, dunklere B-Seite der Platte erlaubt – das Duett von Bushs manipuliertem Sopran mit dem bundlosen, »singenden« Bass des eigens eingeflogenen Eberhard Weber, dem langjährigen Sideman von Jan Garbarek, bleibt auch im Kontext dieses Wunderwerks unerreicht.

Dass in den Danksagungen zum Album unter anderem Werner Herzog und Terry Gilliam Erwähnung finden, kommt nicht von ungefähr: Von Beginn ihrer Karriere an gilt Bushs Interesse einer Verschränkung verschiedener Medien – Musik, Kostüme, Setting, Tanz – zum Zweck der Steigerung der Intensität beim Ausdruck der Komplexität eines größeren, umfassenderen Ganzen. »She get’s it straight from the univese«, lautet einer der treffendsten Kommentare auf YouTube.

Im Video zu »Cloudbusting« sieht man Donald Sutherland in der Rolle des österreichisch-US-amerikanischen, freudomarxistischen Psychoanalytikers Wilhelm Reich, während Bush Peter Reich, den Sohn des Erfinders der Orgontherapie, verkörpert. Der unwahrscheinlichen Häufung ikonischer Hits auf der um das Thema Selbstfindung kreisenden A-Seite steht mit »The Ninth Wave« eine Art Mini-Konzeptalbum auf der B-Seite gegenüber, das in fünf unheimlichen, noch enger als die Tracks der A-Seite miteinander verwobenen Song-Miniaturen schildert, wie eine Frau davon träumt, dass sie beim Eislaufen einbricht und unter die Eisdecke gerät, bis mit „The Morning Fog“ die Sonne wieder aufgeht: hyperrealer Tagtraum auf der einen, surreales, auch alptraumhaftes Nachterleben auf der anderen Seite, wie ein endlos geflochtenes Band ineinander verschränkt.

»Hounds Of Love« sei das »St. Pepper« des Digitalzeitalters, so der US-amerikanische Journalist Barry Walters – ein Autorenalbum, wie es nur einmal in einer Dekade vorkommt. Kindheitsfantasien und sexuelle Identitäten, Familiengeschichte und politisches Bewusstsein, Naturphänomene und kulturelle Mythen, Geburt, Tod und Wiedergeburt – wie James Joyces »Ulysses« bietet Kate Bush dem Rezipienten mit »Hounds Of Love« ein komplettes Leben in einem einzigen Tag verdichtet an. Ein Jahrhundertroman in Gestalt einer Schallplatte, die Hörer in Leser verwandelt und umgekehrt – ein Album, das Leben retten kann.