Ian Curtis war vom Gehen besessen, vom Marschieren und vom Rennen. Seine Lyrics sind voll von Bewegungen, von Aufbrüchen und Ankünften oder dem Horror der Stagnation. Selbst wenn Curtis tanzte, rannte er. Er warf die Arme hoch, erst links, dann rechts, den Kopf zerrte er von einer Seite zur anderen. Vom Fleck kam er dabei jedoch nicht. Sollte es überhaupt eine Metapher für die Musik seiner Band Joy Division brauchen, dann reicht dieses Bild völlig aus. Gemeinsam mit Gitarrist Bernard Sumner, Bassist Peter Hook und Drummer Stephen Morris machte Ian Curtis Musik, die gegen den Stillstand aufbegehrte, vom Versuch geprägt war, zu entkommen – Salford, der Tristesse der ausgehenden 1970er Jahre und dem anbrechenden Thatcher-Regime, der Depression. Joy Division wollten wenig, aber sie wollten weg.
Nachdem Sumner und Hook im Juni 1976 den Sex Pistols dabei zusehen, das Bild des Popstars zu zerschmettern, gründeten sie selbst eine Band, nennen sie erst Stiff Kittens und dann Warsaw, nach dem David-Bowie-Song »Warszawa« und einer Stadt, die keiner von ihnen je gesehen hat. Drei Jahre später veröffentlichen sie »Unknown Pleasures« »I’ve been waiting for a guide to come and take me by the hand«, lauten dessen ersten Zeilen und das von Martin Hannett mit psychopathischer Präzision produzierte Album trifft in einer stagnierenden Welt den Nerv der Zeit. Joy Division sind plötzlich wer, touren unentwegt durch Großbritannien und Europa, der Weg aus Manchester und dem allumgreifenden Weltschmerz heraus scheint geebnet. Doch es kommt anders, und Curtis nicht raus aus seinem Loch. »So this is permanence, love’s shattered pride / What once was innocence, turned on its side / A cloud hangs over me, marks every move / Deep in the memory, of what once was love«, heißt es in »Twenty Four Hours«, einem der Songs auf dem zweiten Album seiner Band.
Kurz nach den Aufnahmen zu »Closer« soll Curtis zu seiner Frau Deborah gesagt haben, dass er sich im Musikbusiness unglücklich fühle und dass er mit der Veröffentlichung von der Single »Transmission« und der LP »Unknown Pleasures« alle seine Ambitionen erfüllt hätte. Er wollte sich einem Zirkus anschließen, schreibt Deborah Curtis in ihrem Buch »Touching from a Distance«, immer und ständig on the road leben – Hauptsache weg und nie an einer Stelle verharren. Die Band war wenige Monate zuvor von einer Europatournee nach Hause gekommen und Curtis mit einem Leben konfrontiert, von dem es ihn wegzog. Schon immer hatte er seine Frau schlecht behandelt und ihr gemeinsames Kind vernachlässigt, seine Affäre mit einer belgischen Journalistin erweist sich als zähes Hin und Her: Viel Drama, wenig Katharsis. Stillstand.
CITI:Es ist der Sound einer Band, die im Begriff ist, auseinanderzufallen und es nicht bemerkt.:### Trotzdem oder genau deswegen beginnt »Closer« mit den Worten »Asylums with doors open wide«: »This is the way, step inside!« Nur ist es ein Schritt ins Chaos. Der Song »Atrocity Exhibition« ist rasend, die Gitarren jaulen »als würde jemand eine Katze erwürgen«, wie Hook in seinem Buch »Unknown Pleasures« schreibt, und Morris’ Drumming, nach dem sich sonst noch jede Atomuhr stellen ließe, läuft komplett aus dem Ruder. Es ist der Sound einer Band, die im Begriff ist, auseinanderzufallen und es nicht bemerkt. Der zittrig-klirrende Synth-Sound von »Isolation«, der karge Midtempo-Groove von »Passover« oder der »fucked-up disco song« »Means to an End«: Je weiter »Closer« vordringt, desto weniger erinnert es an das Vorgängeralbum, wird unschlüssig und heterogen. Und macht hörbar, dass diese Band in eine neue Richtung aufbricht, über die sie sich noch nicht verständigt hatte.
»Closer« ist ein zwiespältiges Album, nicht aus einem Guss wie »Unknown Pleasures«. Die Synthesizer nehmen eine merklich größere Rolle ein, die Gitarre wird wie auf »Heart and Soul« zum Texturgeber. Wo »Twenty Four Hours« noch an die frühen Aufnahmen von Warsaw denken lässt, an Punk und Bowies »Low« gleichermaßen, da nehmen »The Eternal« und »Decades« zum Ende hin das Tempo raus, spielen mit den Möglichkeiten der neuen Technologien, die das angebrochene Jahrzehnt dominieren sollen. »The Eternal« ist ein ernüchternder Trauermarsch, der das Ende vorwegnimmt: »Procession moves on, the shouting is over / Praise to the glory of loved ones now gone« und »Decades« ein letzter Auftritt auf der Bühne, die Joy Division danach verlassen sollen: »Here are the young men, the weight on their shoulders / Here are the young men, well where have they been? / We knocked on the doors of Hell’s darker chamber / Pushed to the limit, we dragged ourselves in«. Hier entlang, tretet ein – ihr seid gekommen, um zu bleiben. »Where have they been?« Wer weiß das schon. Nun sie sind hier, und verdammt dazu, sich selbst nicht entkommen zu können.
Die Musik von Joy Division findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/joy-division-vinyl-cd-tape/i:A8972D2N4S6U9.)