Records Revisited: John Coltrane – Africa/Brass (1961)

01.09.2021
1961 markierte »Africa/Brass« den Anbruch eines neuen Zeitalters: Für John Coltrane war es der Beginn seiner Impulse!-Jahre, für viele afrikanische Staaten der Start in die Unabhängigkeit. Musikalisch war es sein ambitioniertestes Vorhaben.

Als am 1. September 1961 mit »Africa/Brass« das achte Album des US-amerikanischen Saxofonisten John Coltrane erschien, seinerzeit eine der ersten Veröffentlichungen von Impulse!, übrigens in direkter Folge nach Gil Evans‘ »Out Of The Cool« und Oliver Nelsons »The Blues and the Abstract Truth«, sollen die Reaktionen der zeitgenössischen Kritik überwiegend eher verhalten ausgefallen sein. Zwei von fünf möglichen Sternen vergab Downbeat-Autor Martin Williams und beklagte neben einem Mangel an melodischer Entwicklung das Fehlen von »technischer Ordnung und Logik«. Sechzig Jahre später darf man diese überraschend reservierte Einschätzung zwar als weitgehend revidiert ansehen. Dennoch gilt es festzustellen, dass »Africa/Brass« in der allgemeinen Wahrnehmung gerade auch im Vergleich mit Alben wie »Giant Steps« (1960), »My Favorite Things« (1961), »Olé« (1961) oder »A Love Supreme« (1965), die also das zeitliche Umfeld seiner Entstehung bilden, tendenziell ein wenig im Schatten dieser als zeitlose Meisterwerke anerkannten Klassiker steht.

Ein Grund dafür dürfte darin zu suchen sein, dass »Africa/Brass« als »untypisches« Coltrane-Album gelten muss. Zumindest in dieser Beziehung: The John Coltrane Quartet, so die Interpretenzuschreibung auf dem Original-Cover, entspricht den wahren Gegebenheiten bei den Aufnahmen nur bedingt. Insgesamt waren 18 Musiker an den Sessions des 23. Mai und 7. Juni 1961 in den zwei Jahre zuvor eröffneten Van Gelder Studios in Englewood Cliffs, New Jersey beteiligt – und das Quartett in dieser Zwischenfindungsphase eigentlich ein Quintett, hatte Coltrane neben Reggie Workman doch zeitweise zusätzlich noch Art Davis engagiert. Nicht als Alternative, sondern als zweiten Bassisten, wohlgemerkt: eine ausgesprochen ungewöhnliche Besetzungsdisposition, mit der Coltrane Ensemblekonstellationen bestimmter afrikanischer Aufnahmen in seine Arbeit zu integrieren gedachte.

Der Idee, Besetzungsfragen aktiv als Momentum und Kreativfaktor einzusetzen, zu maßgeblichen Stellschrauben bei der Produktion von Jazz zu machen, um aus der Kombination spezifischer Musikerpersönlichkeiten sonst unerreichbare Energiepotentiale anzuzapfen und freizusetzen, war John Coltrane wohl zuerst als Mitglied des Miles Davis Quintetts begegnet. Noch wichtiger, als was gespielt wird, wurde, wer es mit wem spielt.

Zwei von fünf möglichen Sternen vergab Downbeat-Autor Martin Williams und beklagte neben einem Mangel an melodischer Entwicklung das Fehlen von »technischer Ordnung und Logik«.

Auf das virtuose Spiel mit dem Kairos der Aufnahmesession verstand sich in diesen Jahren der Epochenwende vom Ende der 1950er Jahre zum Anfang der Sechziger kaum jemand besser als Creed Taylor. Der hatte 1960 im Auftrag von ABC-Paramount das auf Jazz spezialisierte Sublabel Impulse! ins Leben gerufen, bevor er sich kurz darauf Richtung Verve verabschiedete, um das Gesicht des Bossa-Nova-Sounds mitzuprägen und später mit CTI stilbildend für den Souljazz zu werden. Mit der Exklusiv-Verpflichtung von John Coltrane gelang es Taylor jedenfalls, den seinerzeit bekanntesten Jazzmusiker neben Miles Davis langfristig an Impulse! zu binden – eine Verbindung, die sich für Coltrane im Folgenden künstlerisch als immens fruchtbar erweisen sollte und der er bis zu seinem Tod 1967 treu bleiben wird.

Pure Expression

Insofern markiert »Africa/Brass« durchaus einen Beginn. Gleichzeitig ist darin eine Phase des Übergangs dokumentiert: Die Zeit um das Jahr 1960 zeigt Coltrane auf der Suche nach einer Working Band. Bereits in der Band von Eddie Vinson, ganz am Anfang seiner Karriere, wechselte der 1926 in North Carolina geborene Musiker vom Alt- zum Tenorsaxofon. Allerdings behielt er die Alto-Intonation auf dem tiefergestimmten Instrument bei, wodurch er einen ganz eigenen, charakteristisch hellen und eindringlichen Tonfall erhielt.

Seit 1957 verfolgte Coltrane in seinem Spiel zunehmend das Projekt einer Emanzipation und Auflösung harmonischer Strukturen. Ausgehend von Akkordbrechungen entwickelte er einen rhythmisch verdichteten Stil, dessen Single-Notes-Ketten sich eher horizontal auszubreiten scheinen – der zeitgenössische Jazz-Kritiker Ira Gitler prägte im Zusammenhang mit Coltranes innovativer Spielweise das Wort von den »sheets of sound« (Klangflächen). In Momenten höchster Intensität gipfelten diese auf seine Zusammenarbeit mit Davis und Monk zurückgehenden modalen Skalen in archaisch-universellen Klangereignissen – vorsprachlichen Lautzeichen purer Expression, eruptive Unmittelbarkeit, wenn man so will.

Erst in der Retrospektive tritt zutage, dass »Africa/Brass« Coltranes ambitioniertestes Vorhaben gewesen ist: die hohe Kunst der improvisierten rhapsodischen Form, in allen raumzeitlichen Dimensionen entfaltet.

Zudem öffnet der Verzicht auf Akkordmuster und Progressionen die Musik: Sie wird in Echtzeit mehrdeutig, weil oft unklar bleibt, in welcher Tonart gerade gespielt wird. Ein inniges Einverständnis zwischen Solist und Pianist ist an dieser Stelle unerlässlich. Dieser Intimus war mit McCoy Tyner zur Zeit der Aufnahmen zu »Africa/Brass« bereits ebenso gefunden wie der Schlagzeuger Elvin Jones, dessen polyrhythmische Netze die Klangästhetik des Coltrane-Quartetts maßgeblich mitprägen sollten. Doch das klassische Line-up des Quartetts mit Jimmy Garrison am Bass, das für mehr als eine halbe Dekade stabil bleiben würde, war erst im Herbst 1961 komplett.

In dieser Situation entscheidet sich Coltrane auf »Africa/Brass«, das gewissermaßen noch flüssige, nicht ganz ausgehärtete Quartett stellenweise zur Bigband zu erweitern. Nicht zuletzt die mit dem Einsatz im Jazz seltenerer Blasinstrumente wie Waldhorn oder Euphonium an Gil Evans angelehnten Arrangements von Eric Dolphy, der auf »Africa« und »Blues Minor« auch zu hören ist, sowie McCoy Tyner, ausgeführt von Virtuosen wie den Trompetern Freddie Hubbard und Booker Little, sind dafür verantwortlich, dass »Africa/Brass« als die »etwas andere« Coltrane-Platte wahrgenommen wird.

Eine halbe Stunde in E-Dur

Auch thematisch operiert »Africa/Brass« an der Schnittstelle mehrerer Pole, schaut janusköpfig zurück und nach vorn: Mit den 17 afrikanischen Staaten, die allein 1960 neu auf der Weltkarte erschienen waren, geht der Blick in die Zukunft; mit Reminiszenzen an die Zeit der Sklaverei und die Erfahrung der Diaspora in die Vergangenheit. In den 16 Minuten und 28 Sekunden von »Africa« erzeugt der rhythmische Dialog der beiden Bassisten einen hypnotischen Sog, über dem die Solisten, neben Coltrane sind das hier Tyner und Jones, ihre mächtigen lyrischen Schwingen ausbreiten, emporsteigend über dem immer wieder von irisierenden Klangfarben durchstreiften, sonnenverbrannten Land.

Sowohl hinsichtlich dieser musikalischen Formulierung von Hitze als auch bezüglich der repetitiven Struktur sind die Parallelen zum nur zwei Tage später, am 25. Juni 1961, aufgenommenen »Olé« unüberhörbar. Mit »Greensleeves« verfährt Coltrane analog zu seiner Interpretation des Rodgers/Hammerstein-Standards »My Favorite Things«: Das Sopransaxofon steht als Leadstimme im Mittelpunkt, das Thema des Traditionals wird zum Ausgangspunkt modaler, episch-ekstatischer De- und Rekonstruktion. Fast wie ein Rückgriff auf den Hard Bop der Prestige-Jahre wiederum wirkt »Blues Minor«, der dritte und letzte Track auf »Africa/Brass«.

Erst in der Retrospektive tritt zutage, dass diese Produktion Coltranes ambitioniertestes Vorhaben gewesen ist: die hohe Kunst der improvisierten rhapsodischen Form, in allen raumzeitlichen Dimensionen entfaltet. Spätere Ausgaben machten neben den bei der Session am 23. Mai 1961 aufgenommenen Titeln »Song of the Underground Railroad« und »The Damned Don’t Cry« weitere Takes von »Africa« und »Greensleeves« zugänglich. Welch unterschiedliche Inspirationen von diesem Album ausgingen, zeigt seine Rezeptionsgeschichte: Von Roger McGuinn ist die Aussage überliefert, die Byrds hätten sich darüber gebeugt, als es daran ging, »Eight Miles High« einzuspielen; Minimal-Music-Mastermind Steve Reich zeigte sich ebenfalls beeindruckt: »Africa/Brass« sei in erster Linie »eine halbe Stunde in E-Dur«.