Geht Kunst mit Kommerz? Ab wann ist Erfolg gleich Verrat? Und gibt es eine Genese des Jazz-Snobs? Kaum eine Platte warf diese Fragen so prominent auf wie Herbie Hancocks »Head Hunters«. Nach ihrer Veröffentlichung im Oktober 1973 erlangte sie innerhalb von sechs Monaten Gold-, später als erste Jazzplatte überhaupt Platinstatus. Und das, obwohl das Label Columbia Records angeblich gar keine guten Verkaufschancen prognostiziert hatte: die vier Tracks sprachen demnach weder die R&B-, noch die Jazz-Fans der Plattenfirma an.
Head Hunters
»Nur der Promo-Typ für die Colleges mochte es«, zitiert Herbie Hancock den Produzenten David Rubinson in seiner Autobiografie »Möglichkeiten« (2014). Fast genauso bekannt wie das Album selbst ist auch die Kritik daran. Für den Journalisten Lee Underwood war die Musik »schizoid« und »kommerzieller Müll«, der konservative Kritiker Stanley Crouch sah den Jazzpianisten am »Scheideweg« zum eigenen Untergang. War das jetzt der endgültige Ausverkauf des Jazz an den Mainstream?
Jazz stand auch für die Abwesenheit von Eigentum.
Obwohl die Fusion-Zeit längst angebrochen war, stellt Hancocks blubberndes Knallbonbon aus Jazzfunk bis heute einen der bekanntesten Tabubrüche der Musikgeschichte dar. Schon der erste Track mit dem Titel »Chameleon« (der seither auch gerne als origineller Spitzname für dessen Komponisten herangezogen wird), fällt mit seinen eingängigen, unverwechselbar flummigleichen und miauenden Synths aus der Tradition dessen heraus, was den Jazz in seinen Ursprüngen definierte und was sich als afroamerikanische Erfahrung bezeichnen lässt.
Wie der Autor Diedrich Diederichsen schreibt, gehört dazu der spontane, schlagfertige und vergängliche Umgang mit den Tönen, als seien sie nur geliehen: Jazz stand auch für die Abwesenheit von Eigentum. So zog er seine Macht aus dem Moment, aus der Unmöglichkeit oder zumindest der Unwahrscheinlichkeit der eigenen fließbandartigen Reproduktion. Dass die extra gegründete Band Headhunters auf der Bühne plötzlich nicht mehr improvisieren, sondern das Album möglichst unverändert nachspielen sollte, widersprach dieser Idee.
Musik diebstahlsicher machen
50 Jahre später lässt sich der Skandal auf verschiedene Arten entblättern. Zuerst mal bahnte sich Hancocks musikalischer Weg früh an, vor allem durch die Zusammenarbeit mit Miles Davis in dessen zweiten Quintett, der in den Sechzigern die Rolling Stones, Cream und Jimi Hendrix hörte. »Wenn Miles etwas toll fand, hörte ich es auch«, sagte Hancock 2007 in einem Interview mit Christian Broecking. »Und teilweise hatte ich den Eindruck, dass einige Dinge übertrieben wurden, speziell was den Zusammenhang zwischen Jazz und Rassismus betrifft. (…) Der Jazz geht auf andere Kulturen und Genres zu, öffnet sich und verbindet die verschiedenen Einflüsse zu neuen Sounds. Das ist die Geschichte des Jazz, wie ich sie kenne.«
Die Angst vor einem Raub der eigenen Musik durch den weißen Kapitalismus war also begründeterweise groß. Nur: zur Verteidigung nutzte man selbst kapitalistische und rassistische Zeichensysteme.
Hancocks Kritiker störten sich an dieser Einstellung, und »Head Hunters« brachte den Stein dieser Kritik ins Rollen. Einige waren noch mit den »race records« sozialisiert worden, einer Etikettierung, die in erster Linie die Separation und die Ausbeutung afroamerikanischer Musiker sicherstellte. Die Angst vor einem Raub der eigenen Musik durch den weißen Kapitalismus war also begründeterweise groß. Nur: zur Verteidigung nutzte man selbst kapitalistische und rassistische Zeichensysteme. Bebop, Swing und begriffliche Utopien wie die des einzig wahren Jazz glichen aufgedrückten Siegeln für Produkte mit Echtheitsgarantie, die zwar gedeihen sollten, aber nur, solange sie von bestimmten Musikern gespielt wurden, und nur bestimmten Labels Erfolg einbrachten. Zugespitzt gesagt: man hatte Angst vor dem Diebstahl des Eigentums Jazz.
Mit dem Internet und seinen Auswüchsen sollte der Jazz wenige Jahrzehnte später einen viel größeren Gegenspieler bekommen. Seine Identität als zu bewahrende Kunstform des Augenblicks muss sich neuen Bedingungen aussetzen, in denen das Momenthafte, die Vergänglichkeit, das Original und die Nischenkunst es besonders schwer haben. So gesehen steht »Head Hunters« als eine der bekanntesten Fusion-Platten also vor allem auch für eine organische Weiterentwicklung des Jazz, die dessen Überleben nachhaltig sicherte.