Records Revisited: Gas – Gas (1996)

16.08.2024
Verwaschene Soundscapes und sublime Bassdrum: Das erste Album von Wolfgang Voigts Projekt Gas bringt Ambient in den Techno der 90er-Jahre.

Es muss immer weiter gehen, die musikalische Entwicklung darf nicht stoppen. Es sind die mittleren 1990er-Jahre. Techno wird später nie wieder dermaßen der Tagesaktualität verpflichtet sein, wie jetzt. Die White-Label-12-Inch, die gestern noch die Crowd in den ranzigen Kellerlöchern zur Ekstase gebracht hat, will heute niemand mehr hören. Es ist die Hochzeit des Minimal Techno, Köln ist sein Zentrum und Wolfgang Voigt ist die zentrale Figur der Kölner Techno-Szene. Voigt ist getrieben von einem fast schon pathologischen Drang nach Neuem. Er wird 1998 zusammen mit Michael Mayer und Jürgen Paape Kompakt gründen, nach wie vor eines der wichtigsten und international einflussreichsten Techno-Labels. Seit Ende der 1980er-Jahre arbeitet sich Voigt an den verschiedensten Arten der elektronischen Musik ab, erst Acid Techno, dann Minimal Techno.

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Wolfgang Voigt benutzt Dutzende Pseudonyme für seine unterschiedlichen Projekte: Mike Ink, Love Inc., Profan, Studio 1, Freiland, Wassermann, Rückverzauberung oder Protest. In den frühen und mittleren 1990er-Jahren arbeiten Produzenten und DJs buchstäblich im Untergrund, sie wollen anonym bleiben, die Musik soll im Vordergrund stehen, nicht die Protagonisten. Es ist eine Reaktion auf die Inflation der Superstars, die die 80er-Jahre hervorgebracht hat.

1996 erscheint mit »Gas«, das erste Album von Voigts gleichnamigen Projekt. Es ist seine abstrakteste Auseinandersetzung mit dem Thema Techno. Das Album wird auf Mille Plateaux veröffentlicht, damals das Label für diskursive, konzeptionelle elektronische Musik. »Gas« wird zum Gamechanger nicht nur für Voigt, sondern für die Entwicklung der elektronischen Musik insgesamt. Der erste der sechs unbetitelten Tracks auf dem Album ist eine beatlose Soundkonstruktion, bei der sich verwaschene Soundschleifen umkreisen, um sich dann in Luft aufzulösen, bevor sie sich an anderer Stelle wieder materialisieren. Das steht soundästhetisch in der Tradition von Ambient, einer Spielart, die in der Techno-Kultur der 1990er-Jahre für ein Relikt aus den Siebzigern gehalten wird, das mit dem Heute des Jahres 1996 nichts zu tun hat. Voigt mutet seinen Hörer:innen zu, sich mit seiner Version von Ambient auseinanderzusetzen. Musik muss eine Zumutung sein, um etwas bewirken zu können.

Eine Bassdrum im Wald

Die verwaschenen, amorphen Sounds des Albums generiert Wolfgang Voigt aus einer Vielzahl von nicht zu identifizierenden Samples – von klassischer Musik bis Schlager. Ihre Quellen hält er schlauerweise geheim. Beim zweiten Track geschieht dann das Unerhörte. Unter den Streichersamples, die von Clicks & Cuts und Vinylknistern kontrastiert werden, schlägt stoisch die Bassdrum. Aber sie klingt seltsam gebremst, sie wird gefiltert und so zu einem stumpfen Werkzeug gemacht, es wirkt so, als wäre sie von außen vor der verschlossenen Tür eines Techno-Clubs aufgenommen worden. Bei Gas fungiert die Bassdrum nicht als Kick-Drum, die den Tänzer:innen den Takt einhämmert, sie wird zu einem hierarchisch gleichberechtigten Bestandteil des nebulösen, verhallten Klangbildes, sie ist sublimer Pulsgeber dieser einzigartigen Musik. Die Bassdrum wird sich bis zum Ende des Albums unter jeden Track mischen.

Die Musik soll im Vordergrund stehen, nicht die Protagonisten. Es ist eine Reaktion auf die Inflation der Superstars, die die 80er-Jahre hervorgebracht hat.

Ein Jahr später wird Wolfgang Voigt mit dem Album »Zauberberg« das Projekt Gas konzeptuell aufladen mit einem gesamtkünstlerischen Narrativ, das mittlerweile ein Stück Techno-Folklore ist. Gas als musikalische Interpretation des deutschen Waldes im Allgemeinen und des Königsforsts bei Köln im Speziellen. Dort hat Voigt als Jugendlicher seine ersten psychedelischen Rauscherfahrungen gemacht. Es folgen bis zum Jahr 2000 mit »Königsforst« und »Pop« zwei weitere Gas-Alben. 2017 reanimiert Voigt das Projekt. Aber das Album »Gas« ist die Ursuppe. Es lebt von Widersprüchen und Gegensätzen, es ist gleichzeitig minimal und opulent. Es fügt einen pulsierenden Rhythmus einer Musik hinzu, die nach der reinen Lehre gar nicht rhythmisch sein dürfte. Es ist die Initialzündung von Ambient Techno, hat Einfluss auf den Dub Techno und bringt Ambient als Genre wieder ins Spiel.