Records Revisited: Gal Costa – Índia (1973)

07.07.2023
Verführung durch Eleganz: Die brasilianische Tropicalismo-Mitgründerin Gal Costa schuf mit »Índia« einen (musikalisch) unaufdringlich komplexen Klassiker, der beweist, dass Feinsinn ziemlich sexy sein kann.

Mit heutigem Blick mag das ja normale Härte sein. Doch beim Betrachten des Covers von Gal Costas »Índia« kam man, zumindest damals, nicht umhin, es einigermaßen freizügig zu finden. Da die Platte mitten zur Zeit der brasilianischen Diktatur erschien, gab es denn auch gleich Ärger. Das Cover mit dem knapp sitzenden indigenen Lendenschurz in der Bildmitte, vom Star selbst getragen, wurde zensiert und durch eine schlichte blaue Hülle ersetzt.

Gal Costa, die mit vollem Namen Maria da Graça Costa Penna Burgos hieß, war Grande Dame der Música popular brasileira und eine der Mitgründerinnen des Tropicalismo. Mit gerade mal 18 Jahren trat sie 1964 gemeinsam mit Caetano Veloso, dessen Schwester Maria Bethânia und Gilberto Gil unter dem Titel, »Nós, por exemplo« auf. Zu einigen der Konzerte gesellte sich auch Tom Zé hinzu. Geballte Innovation, die da zusammenkam, alle von ihnen sollten die Musikgeschichte des Lands maßgeblich beeinflussen.

Ihre Solokarriere begann Gal Costa ein Jahr später. Wer im vergangenen Juli die Gelegenheit gehabt haben sollte, die im November verstorbene Gal Costa auf einem ihrer letzten Konzerte in Berlin zu erleben, bekam bei dieser Rückschau auf ihr eigenes Schaffen unter anderem einen Eindruck davon, dass sie in den Jahrzehnten ihrer Karriere selbst lauteren Rock- und Fusionklängen keineswegs abgeneigt war.

Hinreißende Zurückhaltung

Von Stadiontropicalismo ist auf »Índia« dagegen nichts zu hören. Das Titelstück beginnt mit leisen Gitarren- und Streicherklängen, und schon nach den ersten zehn Sekunden fällt es sehr schwer, nicht in die kleine Instrumentalfigur verliebt zu sein, mit der die Platte beginnt. Spätestens beim Gesang, der weitere zehn Sekunden später einsetzt, ist der Hingerissenheit keine Grenze mehr gesetzt. Gal Costa singt in der für brasilianische Sänger damals nahezu verpflichtenden zurückgenommen-stillen Intonation. Den Ausdruck hält das nicht zurück, vielmehr gibt es ihm die genau richtige Form. Lediglich wenn Costa im Refrain in höhere Lagen wechselt, was ihr Stimmumfang locker gestattete, hebt sie die Lautstärke etwas an.

Gal Costas Gesang bleibt so kontrolliert, dass einem ihre Leistung beim Nebenbeihören womöglich entgehen könnte.

Das Orchester steigert sich im Verlauf der knapp sieben Minuten mit jedem neuen Refrain ebenfalls, führt das Ganze zu einem kräftigen, zugleich immer noch dezent üppigen Finale. Der Gesang Costas und das Orchesterarrangement Rogério Duprats gehen dabei eine kongeniale Verbindung ein. Und dieser Auftakt ist sogar der pompöseste Moment des gesamten Albums.

Dass die Platte fabelhaft besetzt war, kommt im zweiten Stück, »Milho Verde«, noch diskreter zur Geltung. Arrangiert wurde die rhythmisch komplexe »portugiesische Folklore«, wie sie im Titel heißt, von Gilberto Gil, der neben der Gitarre zudem die musikalische Leitung für das Album übernahm. Hinzu kommen der Bassist Luiz Alves und die Perkussionisten Chico Batera und Paulo Pereira D’Aquino alias Chacal, die aus dieser Kammermusiknummer ein Musterbeispiel an Zurückhaltung machen.

Verführt – nicht überwältig

Um noch einen großen Namen hinzuzufügen: Arthur Verocai gestaltete als Arrangeur seinerseits zwei Nummern. Sowohl »Presente Cotidiano« als auch »Pontos de Luz« sind konzentriert flüchtig geraten, Ersteres mit konsequent im Hintergrund gehaltenen Streichern und gezielt eingesetzten übrigen Instrumenten wie elektrischer Orgel, Letzteres dafür mit souverän bratzfreier Fusion. Aus der Ruhe bringen oder zu Ausbrüchen etwaiger Art hinreißen lässt sich Gal Costa selbst von Verocais Funk an keiner Stelle.

Gal Costas Gesang bleibt vielmehr bei alledem so kontrolliert, dass einem ihre Leistung beim Nebenbeihören womöglich entgehen könnte. Und doch ist es eindeutig sie, die das vorzügliche Material und den Einsatz ihrer Kollegen zu einem Album verbindet, dessen Größe nicht im bedingungslosen Überwältigen besteht, sondern in einer Verführung durch Eleganz, Komplexität und Raffinesse. Wer einen letzten Beweis braucht, höre das abschließende »Desafinado«, einen der Hits von Antonio Carlos Jobim schlechthin. Besser konnte João Gilberto das auch nicht.

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Unter dem Themenschwerpunkt »Brasilianischer Jazz« fassen wir Beiträge zur aus Brasilien stammenden Jazz-Musik, sowie einen stark von Bossa Nova beeinflussten Jazz-Stil zusammen.

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