Mitte der Neunziger hatte sich die zweite Generation deutscher Hip Hop-Aktivisten vom strengen Dogmatismus der Alten Schule verabschiedet. Die in Szenekreisen vorgelebte Jam-Kultur war zum Relikt geworden. MC Linguist von Advanced Chemistry bekannte schon 1994, dass die Zeit der Jams vorbei war. Weil die Leute dort inzwischen gegen Gage auftraten. Die Bewegung ging raus aus der Cypher, rauf auf die Konzertbühne. Dennoch sollte Rap weiterhin, da war man sich einig, von den Heads für die Heads sein. Und damit das Gegenteil von dem, was seinerzeit die deutschen Charts und Musiksender beherrschte: Ebenfalls Rap. Auf Albumlänge, von den fake MCs, den gemachten Stars der Musikindustrie. Von Cappuccino und vom Wolf, von der Booya Family um Nana und Papa Bear, von Spektacoolär und von Tic Tac Toe, bei denen das verkaufszahlengenährte Platin ihrer 1996 und 1997 erschienen Alben nach wie vor mehr wiegt als Bushidos gesamte Diskografie.
Der Markt gierte nach albumlangen Releases, die gleichzeitig Single-Auskopplungen nebst Video abwarfen. Rap-Deutschland hatte bis dahin aber eher eine DJ-Kultur etabliert, mit der 12inch-Maxi Single als Tonträger der Wahl, was sicher auch an die vorherrschenden Produktionsbedingungen geknüpft war.
Die Hoffnung, auf diese Weise Kohle zu machen, ähnelte dem Warten auf die STF LP. Sie kam nie. Dennoch erklärten die über jeden Zweifel erhabenen Stieber Twins: »Lieber eine EP als Doppel CD und Backstage-Pässe« – ausgerechnet auf dem Titeltrack ihres ersten Longplayers »Fenster zum Hof« Er erschien am 14. Februar 1997. Und läutete Deutschraps Goldene Ära ein.Sogenannter realer Rap wurde da noch nicht über Punchlines verkauft, sondern kaum bis gar nicht.
Wobei: Im Grunde fiel der Startschuss genau eine Woche später. Mit dem Release der »Quadratur des Kreises«-LP vom Freundeskreis. Genau genommen war das Videoclip gewordene Echo dieses Schusses die Initiation der Goldgräberstimmung: Im Sommer ’97 ging die zweite Single-Auskopplung »A-N-N-A« auf Heavy Rotation. MTV und VIVA spielten das Video rauf und runter, auch das Airplay im Radio stimmte. Und so avancierte der lässig gecroonte Schmuse-Rap-Track zum Sommerhit, erlangte den sechsten Platz der deutschen Charts, hielt sich dort 19 Wochen lang. Seinerzeit war das eine größere Sensation.
Real Rap kann echter Pop sein
Im Jahr zuvor, als der Song in anderer Fassung herausgebracht wurde, wollte kaum einer vom ihm wissen. Die Gruppe hieß da noch, etwas sperrig, Maximilian und sein Freundeskreis. Plötzlich aber kamen sie und ihre Single an. Auch – und vor allem – über den abgesteckten Hip Hop-Mikrokosmos hinaus. Weil Max Herre und Co. die Erwartungshaltungen der Rap-Fans ebenso erfüllten wie die der weniger festgelegten Pop-Konsumenten, die einfach nur an Musik interessiert waren.
Sogenannter realer Rap wurde da noch nicht über Punchlines verkauft, sondern kaum bis gar nicht. Weil er in vielen Ohren noch als abwegig galt. Herre räumte diesen obskuren Moment aus, mit seinem vielbeschworenen Händchen für griffige Hooks: »You´re just a part of it so get to the heart of it«, »immer wenn es regnet«. Freundeskreis verliehen ihren Raps mit Refrains Struktur. Der Ohrwurmcharakter ihrer Chorusse wurde zu Deutschraps Trojanischem Pferd. So aufgesattelt erreichten Freundeskreis die Straßen und die Studenten-WGs, die Lounges und das Frühstücksradio.
Natürlich war all das nicht möglich ohne charismatische Bandbesetzung und langjähriger Szenesozialisation. Die Heads wurden per genre-inhärentem _True-to-the-Game-Anspruch am Eastpack gepackt und mit gelehrigen, nicht aber dozierenden Lyrics gefüttert. Doppel-, Trippel- und Quadruppelreime inklusive. Das Realkeeper-Vokabular schwang gekonnt im Subtext, vom Menelik-Flyer im Skit über das Johnny Pate-Sample der »Future Mothers«, das einem noch von Heltah Skeltahs »Letha Brainz Blo« im Ohr klang, bis zu Annas »Vordach des Fachgeschäfts«, wo man sich und seine Crew im »Schoß der Kolchose« verortete. Hier war alles Familie, die Representer-Haltung war an eine linkssolidarische geknüpft – und somit auch für andere Lager anschlussfähig.
Die Exklusivität einer Styles-und-Skills-Werkschau wurde dem Inklusionsgedanken eines offenen Freundeskreises hintenangestellt. Ohne dabei auf Styles und Skills zu verzichten: Was Max und sein auf Englisch rappender Special Featured Artist Koukou MC ablieferten, der den Kreis der dreiköpfigen Band erst quadrierte, war state of the art . Und konnte mit seiner Themenvielfalt auch jene erreichen, die mit Hip Hops ureigenem Egozentrismus wenig anfangen konnten.
»Quadratur des Kreises« ist fein arrangiert und elegant akzentuiert, mit dem nötigen Schmutz an den richtigen Stellen. Der damals schon fast 40-jährige Musiker Don Philippe hatte als Producer in seinem Nosé Studio, im dem bereits die Aufnahmen für die »Kopfnicker« LP der Massiven Töne entstanden sind, ganze Arbeit geleistet. Er, Max Herre, DJ Friction und Koukou MC als der Vierte im Bunde hatten mit dem Album die Messlatte für künftige Deutschrap-Releases ordentlich hoch gelegt. Es etablierte im gleichen Atemzug die Stuttgarter Kolchose als Crew der Stunde, bevor in Hamburg die Mongo Clikke geflasht hat. Heute, nach 20 Jahren, halten beide in einer kaum überschaubaren, quicklebendigen Rap-Szene nur noch als Chiffres vergangener Tage her. Aber »Quadratur des Kreises« hat so als ein Schlüsselwerk der Deutschrap-Genese kaum Patina angesetzt.