Im April 1992 herrscht für einige Tage Ausnahmezustand in Los Angeles. Die »Rodney King Riots« offenbarten dabei nicht nur einen vermutlich rassistischen und unfairen Gerichtsprozess, sondern eine Gesellschaft, die sich so sehr wie sonst nirgends in den USA entlang von Rassengrenzen vertikal eingerichtet hatte. Gangsta Rap war spätestens seit dem Andrew Romelle Young als Dr. Dre und Teil von N.W.A. mit »Straight Outta Compton« dem Genre und dem betitelten Viertel zur Bekanntheit verholfen hatte, präsent, aber stets mit den Vorstädten assoziiert, mit dem Leben derjenigen, die in diesen Tagen im April Opfer polizeilicher Gewalt wurden und den Aufstand probten und als Mob über die Fernsehbildschirme flackerten.
The Chronic
Es hilft Dr. Dre’s erstes (von bislang nur zwei) Soloalben auch in diesem Kontext zu sehen, um sein Einfluss nachvollziehen zu können. »The Chronic« gilt als Meilenstein, als »Game Changer« und das wohl zu recht. Das Album macht zunächst einmal den Raum weit auf. Tiefe Synthesizer-Bässe auf der einen Seite und die kontrastierende eine hohe einprägsame Melodie, ein lässiges Pfeifen quasi, auf der anderen Seite bilden ein Funkgerüst, das meistens nicht mehr als ein paar rhythmische Gitarren und wenige Harmonien duldet. Was dabei noch nach der bis dahin im Mainstream Hip Hop üblichen Partymusik klingen könnte, ist gefüllt mit aller Härte des Gangster Rap, vorgetragen von Dr. Dre selbst und anderen und vor allem einem, der es noch smoother, noch lakonischer und dabei unendlich selbstbewusst konnte: Snoop Dogg.
Als Manager gelang es Dr. Dre eine West Coast-Besetzung hinter sich zu versammeln, die das Album musikalisch ebenso bestimmte wie er selbst und aus der er als Produzent das Beste herausholen sollte: Snoop Dogg, Dogg Pound, Warren G, Lady of Rage, RBX, The D.O.C, Nate Dogg, Dat Nigga Daz, Suge Knight und Kurupt. Im Fall vom Snoop Dogg würde er einen Superstar des Hip Hop aufbauen, der diesen Status nach »The Chronic« eigentlich schon inne hatte, ohne überhaupt ein eigenes Album aufgenommen zu haben. Er ist damit die Blaupause für viele seiner Schützlinge, die später folgen sollten.Dre’s erstes Soloalbum nach seinem Zerwürfnis mit N.W.A. zeigt den späteren Starproduzenten in allen Disziplinen, die ihn von da an ausmachen werden: Dr. Dre, der Manager, Dr. Dre, der Produzent, Dr. Dre der MC – vor allem aber die beiden ersteren Rollen.
Als Produzent zeichnet ihn sein Verständnis für Popmusik aus und mit »The Chronic« gelingt es ihm – man mag das gut oder problematisch finden – Hip Hop als Mainstream-Musik nach allen Regeln eben dieser Popmusik zu etablieren. So platziert er nur einige wenige Samples mit Wiedererkennungswert und schafft ansonsten Kontinuität durch Live-Einspielungen auf großen Teile der Platte. Er verzichtet auf das vielfältige Geflecht der Samples auch zu Gunsten einfacher Harmonien – einiger, weniger aber einprägsamer Akkorde nach ganz simplen Sing-Along-Schemen. Der große musikalische Coup aber besteht darin, wie er den G-Funk als Mode etabliert, ganz so, als ließe sich die Hauptzutat des Hip Hop, der Rap, unbeirrt auf jegliche Stile verpflanzen.
Und genau nach diesem Rezept, finden sich die harten Lyrics des Gangsta Rap plötzlich auf lässigen, funky Partytunes wieder und passen ins MTV-Universum. Aus dem harten Leben in Compton ist plötzlich eine endlose Party geworden, die nur ab und zu durch ein paar Schießereien unterbrochen wird. Mit Snoop Dogg hat er den perfekten Partner gefunden, um diesen Spagat fast unbemerkt verkörpern zu lassen. Während er so im Video zu »Fuck wit Dre Day«, der zweiten Single und dem ab jetzt obligatorischen Diss-Track auf einem jeden Hip Hop-Album, zunächst noch mit der East Coast und den alten Kollegen von N.W.A. abrechnet, kommt nach zwei Minuten Snoop Dogg um die Ecke und nach einem »Bow wow wow yippy yo yippy yay/ Doggy Dogg’s in the motherfuckin house« feiert die Menge. Dann zurück zum Diss mit all seinen homophoben Implikationen. Ja, auch dafür liefert »The Chronic« die Mainstream-taugliche Blaupause.
Apropos Blaupausen: Die Skits (vallen voran das obligatorische Sex-Skit) werden im Mainstream etabliert (Für die nächsten zehn Jahre kommt kaum eine erfolgreiche Hip Hop-Platte ohne sie aus). Snoop Dogg’s lyrisches Meisterwerk »Nothin‘ But a G‘ Thang« wird zur Ikone aller Gangsta Rap-Tracks und mit über eine Millionen verkauften Singles einer der erfolgreichsten Hip Hop-Songs überhaupt. Und zu guter letzt spiegelt sich auch die historische Situation in »The Day the Niggaz Took Over« während »Bitches Ain’t Shit« ein abgrundtief frauenverachtendes und selbst für einen Gangsta Rap-Track verstörendes Ende bildet.
Dr. Dre hat mit »The Chronic« verstanden, den kollaborativen Charakter eines ganzes Genres als eine wirtschaftliche Blaupause zu verstehen und das Genre noch durchlässiger zu machen. Anhand des G-Funks hat er gezeigt, wie man Genre im Hip-Hop assimilieren kann und dass es dafür vor allem einen starken Erzähler braucht, der über all die Widersprüche erhaben ist. Wenige Monate später nach der Veröffentlichung von »The Chronic« würde die Nationalgarde wieder aus Compton abrücken und Dr. Dre sich von diesem und anderen Ursprungsorten des Hip Hop ein ganzes Stück entfernt haben. Dank eines Albums, das einige der besten Produktionen und Raps aller Zeiten bietet und doch auch die Frage aufwirft, ob man das Spiel verändern muss, um es zu beherrschen oder ob es reicht seine Regeln zu kennen.