England Anfang der Nullerjahre war ein demoliertes Free-Market-Etwas im Ascheregen von 18 Jahren Tories unter Margarete Thatcher und John Major sowie von bereits sechs Jahren unter Tony Blairs nicht minder neoliberaler New Labour. Zwischen 1983 und 2001 hatte sich die Armutsrate nahezu verdoppelt. 27 % oder 11 Millionen Brit*innen fielen unter die sogenannte »Breadline«-Armut, einer relativen Armutsgrenze, unter der Menschen gerade so über die Runden kommen. Gerade genug zum Fressen, aber zu wenig, um in der Gesellschaft (kulturell, ökonomisch etc.) zu partizipieren.
Als Dizzee Rascal 2003 den Mercury Music Prize für sein Debütalbum »Boy In Da Corner« (XL Recordings) entgegennahm, hatte er für das verwöhnte Publikum extra ein Video mitgebracht. In diesem streifte der Blick über seine Heimat, dem Londoner Sozialwohnungsviertel Bow, und blieb auf den sich seit einigen Jahren zum Londoner Finanzzentrum entwickelnden Docklands stehen, das in unmittelbarer Sichtweite war und doch für immer unerreichbar: »Das ist Canary Wharf. Es ist direkt vor dir und lacht dich aus.«
Dass Dizzee Rascal 2003 überhaupt den Mercury Music Prize für das beste Album absahnte, kann ironisch als kontra-neoliberaler Trickle-Up-Effekt verstanden werden. Das Bewusstsein, dass England auf dem Zahnfleisch ausblutete, war in den mittleren Sphären der Gesellschaft angekommen. Schließlich konnte sich Dizzee Rascal nicht nur gegen die omnipräsenten Glam-Rocker von The Darkness durchsetzen, sondern zog auch an Coldplays »A Rush Of Blood To The Head« vorbei, das in diesem Jahr das weltweit meist verkaufte britische Album wurde. Der Jury des renommierten Preises war Zeitgeist ein wichtiges Kriterium. Und die Welt, die Dizzee Rascal musikalisch wie lyrisch auf »Boy In Da Corner« spiegelte, war ein blutleeres mentales Wrack, wütend und aggressiv, am Boden und verdreckt – kurz: Grime.
Ausgeblutete Jugend
I’m just sitting here, I ain’t saying much I just think
And my eyes don’t move left or right they just blink
I think too deep, and I think too long
Plus I think I’m getting weak cos my thoughts are too strong
I’m just sitting here, I ain’t saying much I just gaze
I’m looking in to space while my CD plays
I gaze quite a lot, in fact I gaze always
And if I blaze1, then I just gaze away my days
Cos it’s the same old story, shutters, runners, cats and money stacks
And it’s the same old story, ninja bikes, gun fights and scary nights
And it’s the same old story, window tints and gloves for finger prints
Yeah it’s the same old story, police investigate around the area
Cos it was only yesterday we was playing football in the streets
It was only yesterday none of us could ever come to harm
It was only yesterday life was a touch more sweet
Now I’m sitting here thinking wagwan. (Get me wagwan)2
(aus »Sittin’ Here«)
Bereits mit dem Opener »Sittin’ Here« zog Dizzee Rascal die Hörenden direkt auf den Boden der Tatsachen. Kein Beschwichtigen mit Bling-Bling-Party-Eskapismus, keine Hoffnung auf Selbstermächtigung mit neoliberalen Aufbauphrasen. In dieser Welt gab (und gibt) es keine Veränderung. Nichts Neues zu sehen, keinen Aufbruch mehr. Hier herrscht die Stagnation des Abgehängtseins, in dem sich die immer gleichen und extrem limitierten Muster wiederholen. Das gilt umso mehr für die Jugend, die Dizzee Rascal auf seinem Album selbst repräsentiert. Als das Album erschien, war der als Dylan Kwabena Mills geborene Musiker gerade 18 Jahre alt. Den ältesten Song (»I Luv U«) hatte er mit 16 geschrieben.
Die Welt, die Dizzee Rascal musikalisch wie lyrisch auf »Boy In Da Corner« spiegelte, war ein blutleeres mentales Wrack, wütend und aggressiv, am Boden und verdreckt – kurz: Grime.
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»Boy In Da Corner« war damit auch ein Coming of Age Album eines jungen Menschen, der aus der verhältnismäßigen Unbeschwertheit der Kindheit unvorbereitet in die Adoleszenz geschlittert war. In der plötzlich die Perspektivlosigkeit sichtbar wurde und sich mit der grundlegenden Unsicherheit junger Männer vermischte, die an Testosteron-Flashs, dysfunktionalen oder fehlenden Vaterfiguren und einer Erziehung über patriarchale Popkultur-Tropen zu kollabieren drohte. In der damals wie heute um jeden Preis um eine Form von Respekt gerungen wird, die sich aus Angst nährt. In der Männlichkeit über Brutalität, Sexismus und völlige emotionale Dissoziation definiert wird. In der das eigene Arschlochverhalten ganz infantil auf andere geschoben wird.
Kaputte Männlichkeit im Close-Up
In dieser klassisch patriarchalen Welt sind Liebe und Nähe Fremdwörter, die betäubt gehören. An diesen Stellen ist »Boy In Da Corner« auch 20 Jahre später und im Angesicht des erneuten Erfolgs von Frauenverachtern wie Andrew Tate am spannendsten und aktuellsten. Denn nirgendwo anders wird die Infantilität, Selbstverletzung und Lächerlichkeit dieses durchweg kaputten Männlichkeitsbildes von Dominanz und Kontrolle deutlicher als in den vielen selbstbewusst vorgetragenen sexistisch-misogynen Passagen eines 16 bis 18-jährigen Dizzee Rascal.
Da wird den jungen Frauen vorgeworfen, mit der Liebe nur zu spielen, während der männliche Protagonist seinen Respekt über möglichst viele unverbindliche Ficks aufbaut. Für Teenagerschwangerschaften sind nie die Jungs verantwortlich. Deren Aufgabe besteht nur darin, möglichst schnell und effektiv, die junge Frau zur Abtreibung zu überreden, wie es Dizzee Rascal 2003 in einem Interview mit dem Riddim Magazin scheinbar aus eigener Erfahrung erklärte: »Ich bin [einer frühen Vaterschaft] entkommen. Ich kann mich gut aus Sachen herausreden, zum Beispiel [die Frau] davon zu überzeugen, kein Kind zu haben, egal was sie eigentlich will. Ich verdrehe quasi ihre Gedanken3.«
Nirgendwo anders wird die Infantilität, Selbstverletzung und Lächerlichkeit dieses durchweg kaputten Männlichkeitsbildes von Dominanz und Kontrolle deutlicher als in den vielen selbstbewusst vorgetragenen sexistisch-misogynen Passagen eines 16 bis 18-jährigen Dizzee Rascal.
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Grundsätzlich geht es in jeder Interaktion um ein Gegeneinander, nie ein Miteinander. Und Küssen und Kuscheln sind Beschäftigungen kastrierter Männer, a.k.a Ehemänner. Der fast schon satirische Höhepunkt dieser verschrobenen Männlichkeit findet sich in dem Song »Round We Go«, in dem verschiedenste Formen des Leckens beim Sex als unmännlich deklariert werden. Hoffentlich hat sich Dizzee Rascal in den letzten 20 Jahren eines Besseren belehren lassen. Denn Freude oder gar Genuss erlebt bei seinen Sexerzählungen – folgt man Dizzees Stimme – nicht mal er selbst. Gut, dass im selben Jahr auch bell hooks Buch »Men, Masculinity and Love« erschien und Männern wie dem jungen Dizzee Rascal einen Ausweg aus ihrer Leblosigkeit bot.
Dabei war sich Dizzee Rascal der Kaputtheit seiner Existenz und Gedanken durchaus bewusst. Dass er selbst in seiner lyrischen Selbstüberhöhung sich nicht von den anderen Jungs unterscheide, von denen er sich doch so sehr abzuheben versuchte. In dem das Album abschließenden Song »Do It« zerbricht Dizzee Rascal letztendlich an all dem. All das Angeben zuvor verblasst in Bedeutungslosigkeit, jugendlicher Existenzangst und dem überwältigenden Gefühl von Ausweglosigkeit, fest umgriffen von einer bleiernen Müdigkeit. »Boy In Da Corner« war und ist deshalb auch kein Album zum Feiern. So dicke Hose die Texte auch daherkamen, Dizzee Rascal klang in seinem hyperschnellen Rap durchweg vor allem verzweifelt, gehetzt und erschöpft. In seinen Erzählungen war er weder Mann noch Mensch, sondern Zombie.