Kalifornien, 1999. In wenigen Monaten geht ein Jahrtausend zu Ende und zwei Mitglieder einer Band belagern in einem Club DJ Shadow Ob er nicht ihr Album remixen wolle, fragen sie ihn. Er würde es erst einmal gerne hören, antwortet er. Gerne, sagen sie, nur muss er sich noch etwas gedulden – sie haben die Platte noch nicht aufgenommen, bisher kaum einen der Songs geschrieben. Wenig später mietet sich die Gruppe in den Plant Recording Studios in Sausalito, Kalifornien ein. Dort, wo Fleetwood Mac zugekokst ihre »Rumors« einspielten, schreibt die Band eine Platte, deren Titel ein Slang-Begriff für Kokain ist und für deren Fertigstellung sie gut zehn Monate benötigen. Nicht nur, weil sie selbst zuviel koksen und jeden Montag bereits ab 10 Uhr früh Mimosas kippen, sondern auch weil kurz zuvor »Tony Hawk’s Pro Skater« veröffentlicht wurde. Als »White Pony« schließlich im Juni 2000 erscheint, schreibt es Musikgeschichte: Es ist der größte finanzielle Erfolg der Band, für den Song »Elite« bekommen sie sogar einen Grammy verliehen. Es ist einer der konventionellsten Songs auf einem Album, das die Konventionen neu schreibt.
Noch über zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von »White Pony«, über einem Vierteljahrhundert, nachdem sie mit »Adrenaline« debütierten, werden die Deftones weiterhin verfolgt. Und das von einer relativ trivialen Frage nämlich: Machen sie nun Nu Metal im konventionelle Sinne oder doch etwas Anderes, womöglich sogar Grundverschiedenes? Mit Blick auf die Geschichte der Band aus Sacramento lässt sich das allein in Hinsicht auf ihre Einflüsse recht schnell beantworten: Ja zum einen, aber genauso zum anderen. Die Wurzeln liegen im Hardcore der Bad Brains und im Groove-Metal von Helmet, sie zitieren Nas und Kool Keith Aber sie covern auch die Smiths und Sade Sänger Chino Moreno bringt sich als Teenager das Schreiben von Lyrics damit bei, die Texte von The Cures »Pornography« zu transkribieren, Gitarrist Stephen Carpenter hört fast ausschließlich Rap und nennt Meshuggahs »Chaosphere« als sein Lieblingsalbum. »Wir sind Prince-Fans«, sagt Drummer Abe Cunningham heute noch, wenn er die Essenz seiner Band beschreiben soll. Welche Metal-Band überhaupt könnte Ähnliches von sich behaupten?
Auch Rap spielt zwar auf dem ersten Deftones-Demo »Like Linus« und ihrem Debütalbum »Adrenaline« eine große Rolle und tritt aber mit der Veröffentlichung von »Around the Fur« im Jahr 1997 weitgehend in den Hintergrund. Auf musikalischer Ebene zumindest. Denn die kulturelle Prägung durch Hip-Hop-Kultur äußerte sich bei den Aufnahmen von »White Pony« nicht allein durch die Anwesenheit des Turntablists Frank Delgado, der zwischenzeitlich zum Vollzeitmitglied ernannt worden war. Sie affiziert auch die Methoden der Band. Auf »White Pony« beweisen sich Deftones als Sample-basierte Rockgruppe. Was nur eben nicht bedeutet, dass sie sich dafür dieses Break oder jenes Riff auf die MPC geladen hätten. Sondern, dass sie sich mehr oder weniger bewusst wild quer durch die Musikgeschichte zitieren. Das fängt schon mit dem schlichten Artwork des Albums an. Der perspektivisch wagemutig gezeichnete Umriss des galoppierenden Ponys auf silbernem Grund, eine zufällig aufgestöberte Stock-Grafik, stellt eine entschlackte Referenz auf das Cover von Hums Dork-Rock-Meisterwerk »You’d Prefer an Astronaut« aus dem Jahr 1995 dar, von dessen sattem Sound sich die Band und ihr Produzent Terry Date eine große Scheibe abschneiden. Sie stellt sich auch sehr bewusst zu den Graffiti-überfrachteten Nu-Metal-Alben der Bands in Kontrast, mit denen die Deftones in einen Topf geworfen werden.Als Sänger Chino Moreno vor den Aufnahmen Rick Rubin trifft, will der wissen, worum es in den Texten eigentlich ginge. Antwort: »I don’t know.«
»White Pony« ist ein eindeutiges Statement, das von seinen Mehrdeutigkeiten lebt. Der Titel ein semantischer Taschenspielertrick, denn nicht nur spielt er auf den Stevie-Knicks-Treibstoff an, sondern genauso auf Traumsymbolik, räsoniert Sänger Chino Moreno auch heute noch in Interviews. Sowohl in der Musik als auch seinen Lyrics schlägt sich das nieder: Sie sind zugleich hyperfokussiert, egomanisch aufgeblasen und doch verschwommen und surrealistisch. Voller Gewalt- und Sexfantasien, rätselhafter Aussagen und unklarer Verhältnisse. Als Moreno vor den Aufnahmen Rick Rubin trifft, weil der daran interessiert ist, das Album zu produzieren, will der wissen, worum es in den Texten eigentlich ginge. Antwort: »I don’t know.« Die Magie von White Pony speist sich aus den opaken Lyrics, der Performance Morenos und dem vielschichtigen Sound der Band, fast mehr noch aber den Gastbeiträgen: Tool-Sänger Maynard James Keenan schaut im Studio vorbei, Moreno und er schreiben per Cadavre-Exquis-Prinzip ein paar Lyrics zusammen: »Passenger« ist geboren. Rodleen Getsic ist im Studiokomplex zu Besuch, die Band fragt sie, ob sie nicht etwas für den Track »Knife Party« einsingen wolle. Des Bandnamens wegen nimmt sie zuerst an, dass es sich um eine Reggae- oder Ska-Band handel – nach ein paar Durchläufen aber stellt sie sich in die Kabine und fügt dem Stück ihren Glossolalia-Gesang hinzu. Scott Weiland von den Stone Temple Pilots fügt bei einem Treffen mit Moreno dem Song »Rx Queen« Harmonien bei und die Band mischt die Ad-Hoc-Aufnahmen dem fertigen Song unter.
Es sind solche Zufälle und spontanen Entscheidungen, die aus diesem Deftones-Album mehr als nur ein Deftones-Album machen: Weil es voll von den Ideen und Beiträgen anderer ist, ob nun dank der Gäste hinter dem Mikro oder als nicht-ganz-so-versteckte Referenz auf den Studio-Soundtrack, die Alben von Massive Attack die im Trip-Hop-Beat von »Teenager« laut werden und dem Sounddesign, das von Depeche Mode inspiriert ist. »White Pony« wurde deshalb zu einem dermaßen bahnbrechenden Album, weil sich die Deftones darauf erstmals als die Zitationsmaschine in Szene setzen, die sie eigentlich immer schon gewesen waren. Um wirkliche gute Musiker im technischen Sinne handelt es sich bei ihnen – mit Ausnahme von Drummer Cunningham – eigentlich nicht, aber sie haben im Mit- und Gegeneinander ihrer Interessen und Einflüsse das gefunden, was den meisten anderen Bands damals wie heute fehlt: ihren eigenen Sound. Als Nu Metal lässt sich der nur schwerlich beschreiben, auch wenn die Gruppe auf der nachträglich veröffentlichten Single »Back to School« den Song »Pink Maggit« MTV-gerecht zusammenstutzt und Moreno noch ein paar Rhymes dafür aufnimmt. Weil die Plattenfirma einen Rap-Metal-Song will und er selbst beweisen möchte, wie einfach das ist: Einen Song zu schreiben, der gängigen Strophe-Refrain-Strukturen folgt – der die Konventionen der damaligen Zeit also nicht neu schreibt, sondern sie nur reproduziert. Auf der ausführlichen Neuauflage zum 20. Jubiläum des Albums ist er nicht enthalten. Dafür aber, mit über zwei Jahrzehnten Verspätung, ein Remix von DJ Shadow.