Records Revisited: Coil – Musick to Play in the Dark (1999)

24.11.2020
Magie als Klang, der lunare Energien ansammelt: Mit dem im Jahr 1999 veröffentlichten Album »Musick to Play in the Dark« schufen die Elektronik-Esoteriker Coil ihre größten Hymnen an die Nacht. Jetzt wurde es endlich neu veröffentlicht.

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Die Versuchung ist groß. Wenn man von Dingen sprechen möchte, die man für schlecht oder, wie man früher sagte, böse hält, sind stets Wörter wie »dunkel«, »finster« oder »düster« zur Hand. Die Nacht ist negativ besetzt. Weil man im Schutz der Dunkelheit allerlei heimliche Dinge tun kann, darunter Illegales. Das Gegenteil des Tags eröffnet andererseits Freiheiten, die bei hellem Licht weniger leicht zu haben sind: ungestört spazierengehen, sofern man allein sein möchte, ausgelassen feiern, wenn nicht gerade Pandemie ist, sich insgesamt weniger kontrolliert fühlen.

Für die britische Band Coil der stets eine Nähe zum »man downstairs« nachgesagt wurde, hatte die Nacht schon von früh ihren dämonisch-bedrohlichen Charakter verloren. John Balance, der Coil 1983 mit Peter Christopherson gegründet hatte, erzählt in David Keenans Buch »England’s Hidden Reverse«, einer Geschichte des britischen Undergrounds, dass er als Kind einmal trotz der Warnung seiner Eltern entschied: »Ich werde nachts in den Wald gehen, hinein in die Dunkelheit, sie mit offenen Armen begrüßen, und wenn ich sterbe, dann sterbe ich eben.« Nachdem er die Aufgabe erfolgreich gemeistert hatte, stand für ihn fest: »Angst vor der Dunkelheit ist falsch.«

Die Nacht und ihre Begleiterscheinungen ziehen sich durch das Schaffen von Coil. So lauten die ersten Worte, die Balance auf ihrem Debütalbum »Scatology« von 1984 im Song »Panic« singt: »Anything will be alright / If you come out in the night«. 15 Jahre später dann hatten Coil sogar ihr eigenes lunares Genre verkündet: »Moon Musick«. Das im Jahr 1999 erschienene Album »Musick to Play in the Dark« war das erste von insgesamt zwei Ausgaben dieser Reihe. Auf dem Cover eine mondbeschienene Landschaft mit Bäumen und Felsen, der Boden unter Nebel verborgen, das Ganze eine stilisierte Computergrafik. Coil waren schließlich Klangforscher mit Sinn für technische Neuerungen.

»Musick to Play in the Dark« markierte stilistisch eine neue Phase der Band.

Coils Mondmusik markierte stilistisch eine neue Phase der Band. Auch geographisch: Balance und Christopherson waren von London an die Westküste nahe Bristol gezogen. Nach ihren Post-Industrial-Anfängen der Achtziger und Erkundungen in unterschiedlichen Richtungen wie Clubmusik (»The Snow«) oder Glitch (»Worship the Glitch«) während der Neunziger beschlossen sie das Jahrzehnt mit ruhigeren, dabei keinesfalls weniger abenteuerlustigen Klängen. Einige Ansätze behielten sie bei, besonders die Glitch-Effekte der Granulsarsynthese, die Drew McDowall in den Neunzigern zu Coil gestoßen, verantwortete. Im ersten Stück »Are You Shivering?«, eine Anspielung auf den MDMA-Konsum in der Band seinerzeit, mischen sich etwa gitarrenartig sägende Synthesizertöne mit leise knackenden und tropfenden Geräuschen. Darüber spricht Balance einen Monolog, der mit den programmatischen Worten »This is moon musick in the light of the moon« endet.

»Musick to Play in the Dark« ist alles andere als eine homogen gehaltene Platte, trotz des allgemein gemächlicheren Fahrwassers, in dem sie sich bewegt, und trotz der durchschnittlichen Dauer von zehn Minuten pro Stück. In »Red Birds Will Fly Out of the East and Destroy Paris in a Night« regieren die Sequencer-Arpeggien des neu hinzugekommenen walisischen Tastenvirtuosen Thighpaulsandra Vermutlich der einzige Tangerine Dream-Moment von Coil, allerdings mit einem Twist hin zu Noise auf halber Strecke. »Strange Birds« hingegen klingt wie eine Glitch-Etüde im Musique-concrète-Stil, mit Klängen, bei denen nicht ganz klar ist, ob es sich um Aufnahmen von Umweltgeräuschen oder Computergeneriertes handelt. Eine schöne akusmatische Verwirrung.

Höhepunkt ist dann die Drone-Meditation »Broccoli« mit regelmäßig absteigenden Subbasstönen, über die John Balance Denkwürdigkeiten wie »Wise words from the departing / Eat your greens, especially broccoli« spricht, während Peter Christopherson die Worte leise in einer Art Singsang wiederholt. Ahnengedenken der besonneneren und irgendwie bodenständigen Art, in dem auch Ratschläge wie »Wear sensible shoes« ihren Platz haben. Abgründiger da schon die Empfehlung: »And always say ›thank you‹ / Especially for the things / You never had«_. Ungeachtet der möglicherweise komischen Wirkung des Texts gelingt Coil mit dieser Musik, die ansonsten lediglich aus einer minimalistischen E-Piano-Melodie, dezent heulendem Ooh-Ooh-Hintergrundgesang und sehr feinem Knistern besteht, ihr magischster Moment.

»Musick to Play in the Dark« schafft einen Kosmos sehr eigener Art, gelegentlich unheimlich, oft unerwartet gelassen und mit einer Detailfülle am Rand der Wahrnehmung. Auf der ein Jahr später erschienenen Fortsetzung der Reihe ließen sich Coil leider zu einigen Klischees wie dräuend brausendem Wind hinreißen. Hier aber ist der Mond ganz bei sich.


Die Musik von Coil findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/coil-vinyl-cd-tape/i:A108308D2N4S6U9.)