Es hat schon etwas von himmelschreiender Ungerechtigkeit, dass die Namen Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius nicht unbedingt an erster Stelle genannt werden, wenn es um elektronische Musik aus Deutschland der 70er-Jahre geht. Das mag daran liegen, dass ihr gemeinsames Projekt Cluster nicht so einfach zu fassen ist, dass ihre Musik nicht so leicht in allgemein verständliche Kategorien zu packen ist, wie etwa die von Kraftwerk oder Tangerine Dream. Cluster, das ist die gegensätzliche Musik zweier gegensätzlicher Charaktere, die auch immer wieder wegen Meinungsverschiedenheiten aneinandergeraten: Cluster-Musik ist kakophonisch, melodisch und atonal und auch in der Spätphase in den Nullerjahren noch dem musikalischen Experiment verpflichtet.
Zuckerzeit 50th Anniversary Edition,
»Zuckerzeit« wird 1974 veröffentlicht. Es ist der vorläufige Höhepunkt in einer Entwicklungslinie, die 1971 mit dem Album »Cluster« begonnen hat. Das Debüt, noch mit Produzent Conny Plank als vollwertiges Mitglied entstanden, war eine Übung in Proto-Dark-Ambient. »Cluster II« von 1972 dann die Synthesizer-Space-Music. Und mit »Zuckerzeit« ist alles wieder ganz anders. Das dritte Album der Band, die vor dem Ausstieg von Conrad Schnitzler noch Kluster mit K geheißen hat, bricht mit einigen ungeschriebenen Gesetzen der experimentellen elektronischen Musik der 70er-Jahre. Das Album enthält keine ausufernden LP-Seiten-langen Tracks, sondern zehn kürzere, von denen die meisten von einem Beat aus der analogen Drummachine unterlegt werden. Der Beat ist neu bei Cluster. Strenggenommen ist »Zuckerzeit« auch gar kein Cluster-Album. Sondern eine Sammlung von zehn Solo-Tracks, je fünf von Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius.
Nicht süß, aber der Geschmack bleibt
»Hollywood« von Roedelius eröffnet das Album, ein Track irgendwo zwischen klapprigen Proto-House und Synth-Pop, der in jedem Jahrzehnt auf einer Compilation mit aktueller elektronischer Musik eine gute Figur machen würde. Im nachfolgenden »Caramel« verschiebt Moebius die Akzente noch mehr in Richtung elektronischer Pop und führt eine spielerische, leicht humorige Komponente ein, die er im nächsten Track »Rote Reiki« auf die Spitze treibt. Auf diese Weise fügen sich die scheinbar gegensätzlichen Herangehensweisen von Moebius und Roedelius dann doch zu einem Cluster-Album, das in fast schon prophetischer Vorausschau, von den vielfältigen musikalischen Tugenden erzählt, die das Duo bis zum Schluss aufrechterhält, bis zum Jahr 2009, als Cluster mit dem Meisterwerk »Qua« den Betrieb einstellen.
Vielleicht liegt die Richtungsänderung auf »Zuckerzeit« an einem Ortswechsel. Moebius und Roedelius, als archetypische Vertreter der Berliner Schule der elektronischen Musik sind umgezogen in den kleinen Ort Forst im Weserbergland. Ein alter Gutshof dient ihnen und später auch Michael Rother, ihrem Kollegen beim Projekt Harmonia und damals noch Gitarrist von Neu!, als Wohnort und Aufnahmestudio. Die Entwicklung auf »Zuckerzeit« hin zum Beat und zu melodischeren, eingängigeren Stücken wird gerne dem Einfluss Rothers als Co-Produzent zugeschrieben. Der aber erklärt später, dass er das Album gar nicht produziert hätte, sondern lediglich Moebius und Roedelius sein Equipment zur Verfügung gestellt habe.
Man muss die pop-orientierte Anmutung des Albums in einem avantgardistisch-experimentellen Zusammenhang sehen. Schönklang und gezielt gelegte Störfeuer halten sich die Waage, und auch die melodischen Tracks sind nie von der Zuckrigkeit, auf die der Titel des Albums und die Gestaltung des Covers ironisch anspielen. Cluster sind gerade dabei, einen elektronischen Pop der Zukunft zu erfinden. Ihr Alleinstellungsmerkmal: drei Alben in drei Jahren zu veröffentlichen, die innerhalb des Bezugssystems elektronische Musik unterschiedlicher nicht sein könnten. Moebius und Roedelius haben einige Türen geöffnet für diverse Subgenres und Künstler:innen, die in den folgenden Jahrzehnten dafür gesorgt haben, dass elektronische Musik in der Breite und der Tiefe so variantenreich geworden ist, wie wir sie heute kennen.