Records Revisited: Charles Mingus – Mingus Ah Um (1959)

14.09.2019
Charles Mingus war das verrückteste Genie der Jazzgeschichte. In diesem Jahr wird sein berühmtestes Album »Mingus Ah Um« 60 Jahre alt. Ein Rückblick auf Vulkanausbrüche, Waffengewalt und eine Platte, die dem Bass zur Artikulation verhalf.

Am 12. Mai 1959 steht Charles Mingus vor den Columbia Studios in Manhattan, zündet sich eine Zigarette an und weiß: Das Ding ist im Kasten. Oder besser: auf Band. An Mingus, dem großgewachsenen Kontrabassisten mit dem Temperament einer Klapperschlange im Riot-Modus, rauschen gelbe Taxis vorbei. Die Melodien seines gerade aufgenommenen 13. Studioalbums »Mingus Ah Um« schwirren noch in seinem Kopf. Er blickt nach oben, die untergehende Sonne reflektiert in den Fenstern der Hochhäuser. Mingus schnippt die Zigarette auf den Boden. In wenigen Monaten sollte die Jazzwelt eine andere sein.

»Mingus Ah Um« ist bis heute eines der wichtigsten Jazzalben der Geschichte. Neun Stücke, 46 Minuten, alles gesagt und nebenbei den Jazz revolutioniert, ihn mit legendären Standards wie »Fables of Faubus« oder »Jelly Roll« bestückt, die über ein halbes Jahrhundert später immer noch zur Grundausstattung von Jazzer:innen auf der ganzen Welt gehören. All das hat Mingus mit einer ungewöhnlichen Besetzung umgesetzt. Drei Saxophone, zwei Posaunen und eine Rhythmusgruppe bestehend aus Bass, Schlagzeug und Klavier sind in den Fingern von Mingus eine hochexplosive Mischung, die er als Kontrabassist und manischer Ideengeber in einem kollektiven Husarenritt zusammenmischt und in kontrollierter Umgebung hochgehen lässt.

»Wenn Mingus den Bass in die Hand nahm, dann hat er durch das Instrument gesprochen.«

Gene Santoro (Mingus-Biograf)

»Wir hätten alle besser spielen können«, sagt John Handy, einer von Mingus’ damaligen Saxophonisten und heute der letzte Überlebende der Gruppe. »Ich bekam nicht mal die Akkorde. Niemand wusste, was zum Teufel passieren sollte. Mingus gab uns keine Noten. Er gab uns nichts. Wir haben einfach gespielt«, sagt Handy. Von der Platte wollte er nach den Aufnahmen nichts mehr wissen. Handy verließ am 12. Mai vor Mingus das Studio an der 30th Street in New York und hoffte, dass sich die ganze Sache nicht negativ auf seine Reputation als Musiker auswirken würde. Wie falsch er damit lag, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Denn natürlich hätte alles ganz anders kommen können. Mingus, der 1922 als Sohn eines Schwarzen und einer Chinesin in Arizona zur Welt kommt, hatte bis zu seinem Tod 1979 immer wieder mit Depressionen zu kämpfen. Als »Mischling« und »Yellow Nigger«, wie er sich selbst bezeichnete, litt Mingus besonders unter den Rassenkonflikten in den USA. Für ihn war Musik ein Ausbruch, ein Aufstand mit eigenen Mitteln: seinem Bass und der höheren Eingebung, die er als »creative opposition« bezeichnete; eine kreative Gewalt gegenüber seinen Mitmenschen. »Er war nur ein Gefäß für die Musik, die von anderswo herkam. Für sein Bassspiel und seine Virtuosität ließ er sich stets gerne loben, aber die Melodie, das hat er immer gesagt, die kommt von Gott«, sagte seine vierte und letzte Ehefrau, Susan Graham Mingus.

Spontanität als Counter Culture

Der liebe Gott und die Gewalt – zwei Mächte, die eine bedeutende Rolle in Mingus’ Leben als Musiker spielten. Schließlich half ihm der Glaube, sein Naturell in der Musik zu finden, um es gar nicht nächstenliebend mit Gewalt durchzuboxen. Das zeigte sich vor allem in den losen Konstrukten, die er als Jazz-Workshops führte. Spontanität war für Mingus wichtig, von niedergeschriebenen Noten oder durchkomponierten Soli hielt er wenig. Jazz war in seinen Augen Performancekunst. Musik, die im Einklang steht mit der amerikanischen Nachkriegsrenaissance, dem Rock’n’Roll, der Beat-Literatur und der Counter Culture. Sie sollte ausfransen und trotzdem lebendig bleiben, das Ungehörte hörbar machen, explodieren. Dafür brauchte Mingus Musiker, die ihm bedingungslos folgten, sich auf seine unkonventionelle Art einließen – auch auf die Gefahr hin, dass alles, nicht zuletzt er selbst, an diesem Drang nach Risiko zerschellte.

»Mingus war vielleicht verrückt, aber er war seiner Zeit voraus.«

Miles Davis

Seine »Workshops« waren berüchtigt. Im Studio polterte er an manchen Tagen wie ein durchgebrannter Choleriker auf Speed, bedrohte seine Musiker der Legende nach mit Waffen und verlangte, dass sie Passagen so lange probten, bis sie sich von ihren Einflüssen befreiten und eins waren mit der Musik, die in seinen Vorstellungen bereits feste Formen angenommen hatte. »Als wir ›Mingus Ah Um‹ aufnahmen, ging es ihm schlecht. Er hatte Geschwüre am ganzen Körper, schlief nächtelang nicht, schluckte gleichzeitig zu viele Uppers und Downers«, erinnert sich John Handy Ein Desaster seien die beiden Aufnahemsessions am 5. und 12. Mai 1959 gewesen. Aber nichts im Vergleich zu Mingus’ damaligen Bühnenpräsenz. Während Konzerten vergrößerte sich der Radius seiner Wut Plötzlich verschmähte er nicht nur die eigenen Musiker, sondern auch das Publikum. Er schimpfte, weil sie klatschten oder, wie der Bassist es formulierte, zur Kommerzialisierung des Jazz beitrügen. Manchmal saß er einfach nur auf der Bühne, um zu rauchen und Schallplatten aufzulegen.

Unverbesserlich der Beste

Die Leute liebten diese Exzentrik. Seine Musiker fürchteten sie. Besetzungen hielten selten für die Dauer einer Tournee, manchmal auch nur bis zur nächsten Auseinandersetzung. Mingus stolperte im Laufe seiner Karriere oft über sein Temperament. Aber weil er sich als Vulkan im organisierten Chaos suhlte, verlangte er von seinen Sidemen, denselben Sprung durch den jazzoide Rabbit Hole-Krater zu wagen. »Er machte keine halben Sachen«, sagte Miles Davis in einem Interview, nachdem sich die beiden Mitte der 1940er Jahre über den Weg gelaufen waren. »Sogar wenn er sich zum Narren machte, tat er das besser, als alle anderen es jemals hinbekommen hätten. Mingus war vielleicht verrückt, aber er war seiner Zeit voraus.«

Die Quelle der Energie in Mingus’ Musik war er selbst. Mingus spielte seinen Bass mit der Autorität eines Bläsers, dirigierte die Gruppe durch sein Instrument und brüllte die Anweisungen seinen Mitstreitern, wie in dem von Gospelmusik inspirierten Hard Bop-Opener »Better Git It In Your Soul«, auch im Studio zu. Das saß. Das knallte. Und es versprühte Funken, die im Universum der Jazzgeschichte auch 60 Jahre später immer noch nachglühen. »Wenn Mingus den Bass in die Hand nahm, dann hat er durch das Instrument gesprochen«_, schreibt Autor Gene Satore in seiner Mingus-Biografie »Myself When I Am Real«. Er emanzipierte den Bass, machte ihn zu einem gleichberechtigten Partner der Solisten. Und während Mingus dem Bass zur Artikulation verhalf, gab er sich spätstens mit »Mingus Ah Um« selbst eine Stimme.