Normalerweise sind die Rollen in einer Band von Anfang an klar verteilt: Du spielst Gitarre, die Nächste spielt Schlagzeug und der da drüben kann singen. Auch im Bereich der elektronischen Musik verläuft diese Arbeitsteilung oft genug entlang klarer Linien, mit dem Unterschied, dass hier produktionstechnische Aspekte bereits im Entstehungsprozess bestimmend sind und das Instrumentarium aus Samplern, Synthesizern und Drum Machines prägen.
Bytes
Ken Downie, Ed Handley und Andy Turner verweigerten sich dieser strikten Funktionsaufteilung in den frühen 1990er Jahren, als bei Warp jene Turbinen anliefen, in deren Aufwind Ambient, Techno und IDM zum globalen Phänomen und zur Geburtsstunde einer ganzen Subkultur wurden. Bei Black Dog Productions übernahmen die drei alle Rollen parallel, entwarfen Samples, programmierten Drumpatterns, sequenzierten Stems und schraubten die einzelnen Teile zu wild fluoreszierenden Tracks von zeitloser Qualität zusammen.
Ein frühes Highlight von Warp
Unter einem guten Dutzend Pseudonymen arbeitet das Trio seit Beginn des Jahrzehnts auf diese Weise zusammen: The Black Dog, Plaid, Close Up Over, Atypic, Discordian Popes, Balil, Xeper, I.A.O. waren Projekttitel, die oft nur für zwei, drei Tracks ins Leben gerufen wurden und dann wieder in der Versenkung verschwanden. Auch »Bytes« war als Teil der »Artificial Intelligence«-Serie einerseits eine Zusammenstellung aus drei Jahren Studioarbeit hinter verschiedenen Namen, die jeweils für unterschiedliche Konstellationen und Herangehensweisen standen. Zum anderen war es ein in sich geschlossenes und dennoch eklektisches Werk, das von vielen als erster Höhepunkt des schnell wachsenden Warp-Katalogs angesehen wurde – und bis heute wird.
So verliert das Album bis zur letzten Minute nichts von seiner Energie und Intensität, egal wie weit es sich vorwagt oder wie sehr es sich zurücknimmt und zur rhythmischen Meditation wird.
Fast 70 Minuten lang toben sich Downie, Handley und Turner hier in allen Spielarten jener jungen, unerschrockenen Generation von Soundtüftlern des britischen Undergrounds von 1993 aus und demonstrieren mit vehementer Verve, was schon damals aus rein analogem Equipment herauszuholen war. Während Kollegen vom Schlage eines Richard David James (Aphex Twin), Sean Booth oder Rob Brown (Autechre) die intellektuelle Kopfhörergemeinde herausforderten und bedienten, hielten Black Dog Productions ihre Ohren mindestens eine Beinlänge näher am Clubfloor.
So bewegen sich die Tracks auf »Bytes« stets an der Schwelle zur Tanzbarkeit, gehorchen agil sequenzierten Beatstrukturen und sprudeln an vielen Stellen vor Ideen über wie elf Aspirin in einer Colaflasche. Und doch: Die zwischen abstrakten Breakbeats, schwülen Pads und außergewöhnlichem Melodiegespür verhandelten Produktionen wirken ebenso durchdacht, ja fast kontemplativ. Ein Balanceakt, den die Warp-Kader schon früh zu popularisieren und zu perfektionieren wussten.
Aus analogem Equipment gemacht
Schon der Opener »Object Orient« (Plaid) lässt in jedem Produktionsdetail den retrofuturistischen Impetus der »Artificial Intelligence«-Reihe erkennen, zu der im Laufe des Jahres 1993 noch Veröffentlichungen wie »Ginger« von Speedy J oder »Incunabula« von Autechre hinzukommen sollten. »Carceres Ex Novum« (Xeper) fügt der Atmosphäre aus nostalgischen Flashbacks und jugendlicher Aufbruchsstimmung eine fast ominöse Note hinzu und wurde seinerzeit nicht umsonst von John Peel auf BBC Radio 1 gespielt.
Was an der Schwelle von den Achtzigern zu den Neunzigern, von der FM- zur Sample-Synthese erschwinglich und sinnvoll erschien, kam auf »Bytes« tatsächlich zum Einsatz. Die erste Akai MPC60, Rolands TR-808, Casios Megaseller FZ-1 und der Sequential Prophet 5 machen auch Tracks von der schillernden Schönheit eines »Olivine« (Close Up Over) oder »Yamemm« (Plaid) zu einem auditiven Trip, der statt vor 30 Jahren auch gestern hätte produziert werden können.
So verliert das Album bis zur letzten Minute nichts von seiner Energie und Intensität, egal wie weit es sich vorwagt oder wie sehr es sich zurücknimmt und zur rhythmischen Meditation wird. Wenn die süßlich in den Sternenhimmel pfeifenden Melodielinien von »Merck« (Balil) mit knackig gebrochenen Beats tanzen oder die allgegenwärtige Euphorie der frühen Neunziger im abschließenden »3/4 Heart« (Balil) ihre makellose Entsprechung findet, dann gibt es mindestens zwei Möglichkeiten, dies seelisch zu verbuchen: Nackte Freude über diese entgrenzte und entgrenzende Musik, die heute noch so gut funktioniert wie damals, oder Wehmut darüber, dass diese Zeit nie wiederkommen wird. Beides ist berechtigt.