Die UK-Rave-Kultur rast mit der Geschwindigkeit von zwei Mitsubishis auf die Couch zu. Es ist 1993. Ein Jahr zuvor hatte das Label Fantazia noch sechs Partys geschmissen und zog sich nunmehr aus dem Business zurück, knapp bevor der Criminal Justice and Public Order Act 1994 dem Freilandvergnügen ein rechtliches Ende machte. Stattdessen rotierten Platten aus Warps Artificial Intelligence-Serie durch den Wohnzimmerqualm und Shoegaze und Britpop teilten die Sensibelchen und die Lads untereinander auf. Bis zum Jungle-Peak oder dem Trip Hop-Durchbruch sind es 1993 noch jeweils ein, zwei Jahre hin. Es scheint die nächste Sackgasse erreicht, eine Lücke muss gefüllt werden.
Debut
Das wird sie auch. Das beste britische Dance-Album des Jahres ist eine Pop-Platte und wurde von einer Isländerin geschrieben. »Debut« nennt Björk das Album, das sie am 5.7.1993 veröffentlicht und natürlich ist der Titel eine nette, aber irgendwie doch ziemlich dreiste Lüge. Eine größere Wahrheit hätte sie damit allerdings ebensowenig aussprechen können.
Frühreifes Wunderkind
Aber von vorn, und das in aller Kürze: Björk Guðmundsdóttir wird im November 1965 geboren, nach der Trennung der Eltern zieht ihre Mutter sie in einer Kommune groß und bereits mit elf Jahren nimmt sie ihr erstes Album auf. Dann entdeckt sie Punk für sich und nimmt mit den Sugarcubes aus dem Umfeld der Kunstgruppe Smekkleysa 1987 die Single »Birthday« auf, die im UK von John Peel protegiert, das heißt unvermeidlich zum Underground-Hit wird und den Grundstein für eine erfolgreiche, aber kurze Bandkarriere legt.
Schon zuvor konnte Björk mit ihrer Band Tappi Tíkarrass in Großbritannien landen und das wortwörtlich: 1983 spielte das Post-Punk-Quartett im Vorprogramm der legendären Anarcho-Punks Crass ein paar Konzerte. Tourneen der Sugarcubes ziehen sie erneut dorthin, 1988 schließlich kam sie zur rechten Zeit am rechten Ort an: Manchester. Pardon: Madchester.
Björk ist ein Genie, Björk ist eine fragile Seele, Björk ist eine Revoluzzerin, Björk hatte schon eine Website, als allen anderen noch Faxen zu krass war.
Björk pendelt zwischen den Clubs der Stadt und der von London, siedelt 1992 endgültig von der einen auf die andere Insel über und veröffentlicht mit »Debut« nach dem Ende der Sugarcubes schließlich ein Album, das vor allem einen Schlussstrich zieht. Einerseits unter ihre eigene Beschäftigung als Solo-Songwriterin, die schon mit 17 Stücke wie »Human Behaviour« schrieb und mit einem minimalen Studio-Set-Up zum Ausgleich an Musik feilte, nachdem der Sohn schon längst im Bett war.
Andererseits unter eine Tradition britischer Rave-Musik, die dreckige Felder in den Außenbereichen des Londoner Einzugsgebiet jederzeit der heimischen Couch vorgezogen hatte und sich nunmehr darauf bequemen muss. »Debut« gerät zum Überraschungserfolg. Statt der angepeilten 40.000 Exemplare setzte ihre Plattenfirma weit über das Zehnfache ab. Warum aber eigentlich? Und warum eigentlich klingt die Mischung aus Rave, preziösen Jazz-Arrangements, Bollywood-Strings und Proto-Trip-Hop ein Vierteljahrhundert danach noch immer nicht komplett peinlich?
Der unwahrscheinliche Weltstar
Björk wurde nur deswegen zum unwahrscheinlichen Weltstar, weil sie vielleicht eine der letzten klassischen Popstar-Personae ist. Der sie immer noch begleitende Tenor: Björk ist ein Genie, Björk ist eine fragile Seele, Björk ist eine Revoluzzerin, Björk hatte schon eine Website, als allen anderen noch Faxen zu krass war. Alter, Björk ist Is-län-de-rin. Ist doch alles klar. Aber ist alles klar?
Nicht so ganz, und das ist ja das Schöne. Björks Debüt und also »Debut« markierte das erste öffentliche Auftreten einer Figur, die gleichermaßen radikal intim und extrovertiert scheint, jedoch nie wirklich viel über sich preis gibt und auch mal Schellen verteilt, wenn ihr jemand zu sehr auf die Pelle rückt Stattdessen lässt Björk zuerst einmal viel zusammenfließen. Mit dem Soul II Soul-Produzenten Nellee Hooper, dessen Handschrift aus House-meets-Hook-Magie-Bangern wie »Big Time Sensuality« herauszuhören ist, dem Jazz-Harfisten Corky Hale, der sich zuerst widerwillig für ihre Interpretation des Jazz-Standards »Like Someone In Love« breitschlagen ließ und dem Saxofonisten Oliver Lake, der unter anderem auf »Aeroplane« und »The Anchor Song« seinen Einsatz hat, sowie einem indischen Filmorchester, das für die Bollywood-Klänge auf »Venus As A Boy« und die Tablas auf »Come To Me« verantwortlich, bringt die Isländerin sehr verschiedene Menschen, vor allem aber musikalische Stilistiken zusammen.
Das geht offensichtlich so gut auf, dass ihr World Music-Ansatz bis heute noch nicht kritisiert wird. Vermutlich, weil es trotz allem als Pop funktioniert. »Debut« bietet ein gleichermaßen geschlossenes Bild der Künstlerin wie eine musikalische Offenheit an, die im noch vorsichtigen Miteinander von Tradition und Gegenwart, Rave und Pop so noch nicht bekannt war.
Radikal intim und extrovertiert zugleich
So wie Björks Musik auf »Debut« in erster Linie in ihren musikalischen Bezugnahmen zu verstehen ist, so sind ihre Lyrics überwiegend Beziehungen gewidmet. »Big Time Sensuality« ist an Hooper gerichtet, »Venus As A Boy« die Studie eines zärtlichen Männlichkeitsentwurfs (»Meiner Generation von Männern wurde 20 Jahre lang erzählt, sie sollten [ihre Gefühle] ersticken und dann wurden sie von Frauen angeschrien, denn wo waren sie denn?«, rekapitulierte sie noch 2017 in einem Interview zu ihrem Album »Utopia«) und »There’s More To Life Than This« wurde auf der Toilette des Londoner Clubs Milk Bar eingesungen, inklusive Hintergrundkreischen. Es gibt die Björk von »Debut«, ebenso wie die spätere Björk, sowohl im Studio wie in ihren Texten nur in Relation zu anderen Menschen, obwohl sie doch in ihren Texten so viel Allzumenschliches anzubieten scheint.
Dahinter jedoch bleibt die Debütantin als Person wunderbar schwammig. Und das in einer Zeit, die vor allem durch urige Authentizität aus dem Grunge-Business, die schnoddrige Ironie der Britpop-Lads und die zwar immer noch knallbunte, aber zur erschöpften Geste geronnenen Euphorie der Rave-Kultur geprägt ist. Björk macht einen musikalischen und inhaltlichen Referenzrahmen auf, der als Leinwand für die kurz skizzierten Liebesgeschichten zwischen Glück, Verlangen und Kontrollverlust dient, am besten ausgedrückt im fiebrigen Ibiza-Kippspiel »Violently Happy«. Wer hier aber eigentlich wen liebt und wieso, das ist nie ganz klar und deshalb umso besser, denn es klingt reichlich ungesund.
»Debut« ist eines der wenigen Alben, deren absolute Gegenwart sich gleichermaßen aus der Vergangenheit – von X-Ray Spex über die Stone Roses hin zur letzten Acid House-White Label – wie aus der Zukunft speist. Denn es ist zugleich ein hellsichtiges Album, das gleichermaßen den Siegeszug elektronischer Pop-Musik voraussagt. Die klang zwar selten so wunderbar wunderlich wie 1993 auf »Debut«, aber auch deshalb ist der Titel eben eine Lüge: Björk war sich damit schon selbst wieder voraus.