Als ob du auf Acid in einem Kraftwerk stehen würdest, so klinge sein neues Album. Das behauptete Richard David James im März 1994 in einem Interview mit dem britischen Magazin The Face. Erst wenige Tage zuvor hatte das noch junge Label Warp seine »Selected Ambient Works II« veröffentlicht. Der amerikanische Musikjournalist Charles Aaron behauptete hingegen, dass dieses Doppelalbum in seinen besten Momenten wie der Avantgarde-Score zu einem postapokalyptischen Theaterstück klinge, etwas in Richtung Philip Glass, allerdings deutlich öfters höre es sich wie Kammermusik für humorlose Cyber-Nerds an. Treffer.
Denn Richard D, James galt als öffentlichkeitsscheuer Soundtüftler aus dem britischen Cornwall, die Zusammenarbeit mit ihm sei zudem nicht wirklich einfach, hieß es von Mitarbeitern. Seine selbstgebauten Synthesizer könne er kaum in Clubs aufstellen, allein der Transport würde sie bereits nachhaltig beschädigen, hieß es von ihm selbst. Er fahre zudem einen gepanzerten Wagen, habe jedoch gar keinen Führerschein, hieß es von der Musikpresse. I’m a weirdo, I don’t belong here. Doch während sich der Britpop zeitgleich Radiohead unterwarf, transformierte James nicht nur ein Genre, sondern beeinflusste die komplette elektronische Musik.
Ambient, so eine andere Legende, entstand einst durch die Auswirkungen eines Autounfalls zu Beginn der 1970er Jahre. Brian Eno landete im Krankenhaus, eine Besucherin brachte ihm ein Album mit Harfenmusik aus dem 18. Jahrhundert mit. Sie legte die Platte auf und verabschiedete sich. Das Album lief, jedoch auf sehr geringer Lautstärke, Eno konnte sich nicht rühren, um daran etwas zu ändern. Und so lag er dort, lauschte dem Regen und der Harfe. Wenig später mündete diese Erfahrung in dem Album »Discreet Music« und jenem Genre, dessen Sound so leicht vorbeizieht.
Und hier kommt der Bogen zu Aphex Twin Ein wichtiger Teil der Kultur des Acid House im Vereinigten Königreich waren jene Räume, in denen die Leute von Tanz und Rausch runterkommen konnten. Die DJs dort mixten unter anderem verschiedene Alben von Brian Eno mit Soundeffekten. Musik als Heilmittel und Entspannung.
Nur verzerrte James diesen Sound für sein Album zu einem subtilen und introvertierten Albtraum.
Der Vorgänger »Selected Ambient Works 85-92« lässt sich noch eher zu Ambient Techno und dessen ersten Ausläufern in Richtung IDM rechnen, »Selected Ambient Works II« breitet auf über zweieinhalb Stunden jedoch einen Sound aus, der komplett ohne Beats oder Rhythmen auskommt. (Wobei sich daran bis heute die Geister wie Kritiker scheiden. Denn: Was ist ein Beat?) Verstörend, unerbittlich, radikal, so lauten selbst heute noch die Meinungen zu dieser Platte. Die Tracks besitzen keine Namen, stattdessen entwickelten Fans mithilfe des Covers der LP eine Liste an Namen, um sich über dieses Album überhaupt unterhalten zu können. Denn es kommt erschwerend hinzu, dass es mehrere Versionen der Platte gibt. Mit verschiedenen Spielzeiten – je nach Medium.Verstörend, unerbittlich, radikal, so lauten selbst heute noch die Meinungen zu dieser Platte.
»Ich mag Musik, die böse und merkwürdig klingt«, sagte James einmal. Sein Sound enthält mehr Essenz, ist nicht nur Abziehbild einer nie eintreffenden Zukunftsidee aus der Vergangenheit wie bei Burial. Wenn Journalist David Toop in The Face davon schrieb, dass dieses Album das akustische Äquivalent zu einem Album voller hinreißender Polaroidfotos sei, lässt sich dies im 21. Jahrhundert kaum noch verstehen. Polaroids stehen für eine Dringlichkeit, die Bilder erscheinen unmittelbar nach dem Auslösen aus dem nebulösen Weiß eines Stücks Papier. Es gab keine Smartphones, das Internet war mitnichten ein Massenphänomen und gedruckte Musikmagazine waren jene Meinungsmacher, die sie heute noch gerne wären.
So wie die Bilder der Polaroids tauchen auf »Selected Ambient Works II« die Sounds auf, dieses Album lässt sich nicht mal eben nebenbei hören. Vielmehr zieht es die Aufmerksamkeit mit jeder Minute mehr und mehr auf sich. Synthesizer jammern, weinen, rufen, oftmals sind die Tracks so klar, dass sie glitzern und funkeln in ihrer Dunkelheit. James will diesen Sound durch luzides Träumen in diese Welt geholt haben, was vielleicht ein weiterer Teil seiner eigenen Legendenbildung war. Doch folgt dieses Album tatsächlich einer Traumlogik, besitzt kein übergreifendes Narrativ, das sich fassen lässt.
Die Welt nimmt im Jahr seines Erscheinens noch einmal ordentlich Fahrt auf, die elektronische Musik, Björk und Radiohead stehen bereit, die Welt in den nächsten Jahren zu formen, Grunge und College Rock zeigen ihre endgültigen Verschleißerscheinungen. Dass die Entschleunigung dieses Albums stellenweise wie eine Provokation wirkte – mag sein. Heute bleiben diese Tracks die Überreste eines üblen Trips, schemenhafte Umrisse in der Realität, die sich nicht mehr fokussieren lassen, Töne, die nur im Nachhall existieren. Ein Pfad in jene Bereiche des menschlichen Innenlebens, die sich nicht erklären lassen.
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