Pierre Schaeffer, der Mann, ohne den die Musik der letzten 50 Jahre nicht enstanden wäre

20.08.2020
Lange Zeit war es kaum vorstellbar, dass Musik durch anderes als Instrument und Stimme entstünde. In den Händen Pierre Schaeffers jedoch wurde der Tonträger zur Basis der Komposition. Vor 25 Jahren starb der Pionier der elektronischen Musik

Walter Benjamin beschreibt in seinem 1936 veröffentlichten Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« einen Kulturwandel, ausgelöst durch die Möglichkeit der Vervielfältigung und sieht hierin die Chance zur gesellschaftlichen Emanzipation. Was für die Literatur der maschinelle Buchdruck ist, war für die Musik die Einführung der Schellackplatte. Sie brachte die sonst nur in Aufführungen hörbaren Stücke unmittelbar in die Wohnzimmer der Liebhaber.

Das Potenzial dieses Mediums und seiner Nachfolger war im Moment gespielte Musik dauerhaft zugänglich zu machen. Pierre Schaeffer und eine Gruppe von gleichgesinnten Komponisten nutzten diese Chance. Sie gründeten die »Groupe de Recherche de Musique Concrète« und machten das Reproduzierte zum Produktionsmittel. Sie manipulierten Tonträger und nahmen die Ergebnisse auf. Das Grundkonzept: Musik entsteht aus dem Konkreten und wird ins Abstrakte überführt. Das erste vorzeigbare Ergebnis dieser Experimente waren fünf Stücke unter dem Namen »Cinq études de bruits – Five Studies of Noises« und erschien 1948. Darin enthalten: »Étude aux chemins de fer« die Komposition besteht aus zusammengeschnittenen Zuggeräuschen. Wo die Zwölftonmusik eine Demokratie der Noten herstellen wollte, verließ Pierre Schaeffer die Enge der Tonhöhen und weitete die Komposition moderner Musik auf den Sound selbst aus. Im Fokus stand das akustische Potenzial, das eine Aufnahme birgt.

2014 erscheint der Track »Something They Don’t Know« der Rap-Gruppe clipping., der 24 verschiedene Samples beinhaltet. Darunter bei 04:31 ein wiederholtes Pfeifen, dem zuvor angesprochenen Stück von Pierre Schaeffer entnommen. Auch andere Stücke von clipping. sind stark angelehnt an die Verfahrensweisen der Musique Concrète. Darunter der Song »Williams Mix« quasi ein Cover des gleichnamigen Stücks von John Cage Dieses wurde 1952 veröffentlicht. Cages Komposition auf acht Spuren gibt vor, wie die Collage aus Tonbändern zusammengefügt werden muss. Schon bald danach nahmen sich Popgruppen wie The Beatles oder Pink Floyd der Herausforderung der Musique Concrète an.

Die Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten, von der Aufnahme zur Neuordnung, vom Sample zum Track war ein Novum für die Kompositionskunst. Heute ist sie überall vorhanden. Mit Hip-Hop fußt die größte kulturelle Bewegung unserer Zeit auf genau diesem Gedanken.

Sowohl John Cage als auch Pierre Schaeffer gingen davon aus, dass jeder Klang von sich aus musikalisch sei. Die Verfahrensweise der Musique Concrète ist intuitiv, sie fügt Geräusche zusammen, die durch ihre Neukontextualisierung Bedeutung gewinnen. Als Gegenentwurf kann ein anderer Urvater elektronischer Musik gesehen werden. Im Studio des Nordwestdeutschen Rundfunks hantierte Karlheinz Stockhausen zu ähnlicher Zeit mit Radiogeräten, durch die er jeden einzelnen Klang vollends durchkomponieren konnte. Sicherlich praktisch, sollte in der seriellen Musik doch jedes Element eines Werks dem übergeordneten Prinzip unterworfen sein.

Der Aufstieg von Sound

Die Bewegung vom Konkreten zum Abstrakten, von der Aufnahme zur Neuordnung, vom Sample zum Track war ein Novum für die Kompositionskunst. Heute ist sie überall vorhanden. Mit Hip-Hop fußt die größte kulturelle Bewegung unserer Zeit auf genau diesem Gedanken. Dennoch wäre es verfehlt, Hip-Hop als direkte Folge der Musique Concrète einzuordnen. Die Kontinuität besteht nicht, Grandmaster Flash kannte weder Pierre Schaeffer noch John Cage und die heute bestehende Popkultur ist eben nicht das Ergebnis der weißen, männlichen, akademischen Avantgarde aus Europa. Musique Concrète und Hip-Hop sind Parallelen, keine Kausalitäten.

Besonders gut zu beobachten ist das auf dem Titel »TenTenths« von Injury Reserve. Producer Parker Corey erzählt im Interview beim Radiosender WSOE 89.3 wie er Musique Concrète für sich entdeckt hat. »That sample came from me reading about this weird genre in the 50s that was like experimental French composers just recording sounds on things like your handheld recorder«. Ohne persönlichen oder ideellen Bezug zur Bewegung um Schaeffer hörte er sich die Stücke an, fand einige Sounds und baute sie zu einem Instrumental zusammen. Gewissermaßen auf sekundärer Ebene nahm er sich der Geräuschkulisse an, schnitt sie auseinander, um sie zu einer neuen Komposition zusammenzusetzen. Ob man möchte oder nicht, auch das ist Musique Concrète.

Auch Künstler wie JPEGMAFIA oder 100gecs machen von diesen Verfahrensweisen Gebrauch. Auf »Rock N Roll Is Dead« rappt ersterer über einen Beat, der aus mit dem menschlichen Mund produzierten Geräuschen besteht, die ASMR-Videos entnommen sind. Zweitere veröffentlichten auf ihrem Debütalbum den Track »gecgecgec«, der mit seiner losen Struktur gefundene und manipulierte Sounds verbindet, unterfüttert mit einer fortwährenden Wiederholung des Titels. 1952 schrieb Pierre Schaeffer: »a lone man possesses considerably more than the twelve notes of the pitched voice. He cries, he whistles, he walks, he thumps his fist, he laughs, he groans«.

Die Ablösung der Musik von festgelegten Tonhöhen ist selbst in der Popmusik heute auf dem Fortschritt, die Manipulation des Sounds steht immer mehr im Vordergrund. Als moderne Pioniere dieser Tendenz könnte man die Künstler des Labels PC Music betrachten, aber auch aktuelle Popstars wie Charli XCX und Tame Impala nutzen Techniken, die zuerst in der Musique Concrète erprobt wurden. Die Allgegenwärtigkeit des Internets liefert die Überladung, die Experimente der Gruppe um Pierre Schaeffer jedoch arbeitete schon seit den 1940er-Jahren daran, dem menschlichen Ohr neue Hörgewohnheiten anzubieten.

Wo Pierre Schaeffer begann, bereits aufgenommene Geräusche zu manipulieren und neu zu ordnen, kann einer der Marker für den Beginn der Postmoderne in der Musik gesetzt werden. Das Lied selbst rückte in den Hintergrund, der Sound dominiert. Und dieser Sound ist auch immer ein Zitat oder Metazitat, neu geschaffen wird hier sein Kontext. Dass Musikproduktion heute vor allem Montagearbeit ist, ist ein Ergebnis der Entwicklungen, die sich im Studio der »Groupe de Recherche de Musique Concrète« und im Kopf Pierre Schaeffers seit den 1940er Jahren zugetragen haben.