Phew hatte nie einen Plan – und das ist auch so geblieben

16.02.2021
Punk mit Aunt Sally, Synth Pop mit Sakamoto und experimentelle Musik solo und mit anderen: Die japanische Musikerin Phew sucht seit über vier Jahrzehnten die Fehler in der Musik, weil sich darin nur deren Möglichkeiten offenbaren.

Wo andere nur Musik hören, sieht Phew Möglichkeiten. Im Jahr 1975 erlebt die damalige Teenagerin die New York Dolls live in Kyōto. »Sie spielten auf zwei Stages, weil der Headliner Jeff Beck in letzter Minute abgesagt hatte«, erinnert sie sich heute. »Der Sänger, David Johansen, inhalierte nach jedem Song am Bühnenrand Sauerstoff. Anders als Lou Reed, den ich ein paar Monate zuvor gesehen hatte, oder Marc Bolan und David Bowie, waren diese Jungs keine Rockstars, die von oben herab auf das Publikum herunterschauten.« Ein Hauch von Demokratisierung liegt an diesem Abend in der Luft und erreicht auch bald das japanische Fernsehen. Dort werden 1976 erstmals die Sex Pistols gezeigt und begeistern die junge Zuschauerin weniger mit ihrer Musik und vielmehr mit dem, was sie verkörpern: Es sind Menschen ihres Alters, die sich über musikalische und gesellschaftliche Normen hinwegzusetzen scheinen. Im Folgejahr reist sie nach London, um die Band live zu sehen. Punk sei im Jahr 1977 zu Ende gegangen, sagt sie heute. Was sein Aufstieg der Teenagerin damals aber deutlich machte: Was die können, das kann sie schon lange. Punk ist nicht etwas, das konsumiert, sondern gelebt werden soll. In welcher Musikform auch immer.

Nur wenig später also gründet Phew mit vier anderen jungen Frauen Aunt Sally. Die Band erspielt sich schnell einen Ruf in der damals noch jungen Punk- und New-Wave-Szene des Landes und veröffentlicht 1979 ihr selbstbetiteltes Debütalbum, das auf dem damals noch sehr jungen Label Vanity Records des Musikjournalisten Agi Yuzuru erscheint. Es sind aufregende Zeiten für die Musikszene des Landes, das zu dieser Zeit im wirtschaftlichen Aufschwung begriffen ist und dessen Premierminister Ōhira Masayoshi stolz ein »neues Zeitalter der Kultur« einläutet. Vor allem in der Region Kansai bildet sich derweil eine lebhafte Independent-Szene: In Kyōto entwickelt sich rund um den kissa Drugstore das Phänomen noizu, in Phews Heimat Ōsaka bildet sich eine Punkszene aus. Die Einflüsse kommen aus Großbritannien, vor allem aber aus den USA, von Art-Rock über Punk und Post-Punk bis hin zu No Wave. »Aunt Sally« war die erste Independent-LP aus dieser Zeit und zog auch Mainstream-Aufmerksamkeit, jedoch genauso feindselige Kommentare aus der Presse auf sich. Die Band aber zerbrach so schnell, wie sie sich einen Namen gemacht hatte, im Herbst 1979. Eins allerdings hatte sich erfolgreich erwiesen: Dass es möglich war, auf unkonventionelle Art und Weise Musik zu machen und sich damit Gehör zu verschaffen.

Das Ende von Aunt Sally markiert den Beginn eines musikalischen Lebens, das Phew seitdem gegen den Strich der Musikindustrie gelebt hat. Als im März 1980 ihre erste Solo-Single erscheint, legt sie damit den Grundstein für ihre Solo-Karriere und entdeckt die Möglichkeiten des Studios für sich: »Vocal. Voice. Noise.« schreiben ihr die Credits der von Sakamoto Ryūichi produzierten Single trocken zu – es soll über drei Jahrzehnte dauern, bis sie auf diese Reihung zurück kommt. Zuerst einmal fliegt sie schließlich nach Deutschland, um mit Holger Czukay und Jaki Liebezeit von CAN sowie dem legendären Krautrock-Produzenten Conny Plank ihr selbstbetiteltes Debütalbum aufzunehmen. »So wie ich es gehört habe, hatte Holger ein Exemplar mit Kollaborations-EP mit Sakamoto. Als jemand von der Plattenfirma in Connys Studio war, fragte Holger ihn, ob er von mir gehört hätte.« Danach sei alles ganz schnell gegangen, die Zusammenarbeit wird als kollegial und aufgeschlossen beschrieben. »Phew« führt den trockenen und konfrontativen Stil fort, den »Aunt Sally« und die »終曲(フィナーレ) / うらはら«-Single vorgeprägt hatten: Hier mehr Joy Division als Sex Pistols, dort näher an Industrial und experimenteller Klangkunst als im weiten Feld der Popmusik beheimatet.

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»Phew« kommt in Japan dennoch gut an, obwohl es klanglich und künstlerisch in krassem Kontrast zur City-Pop-Ära steht, welche den fortlaufenden ökonomischen Aufstieg Japans zur »soft power« wirtschaftlicher und kultureller Provenienz begleitet. Statt sich aber im Erfolg zu suhlen und zu versuchen, darauf aufzubauen, kehrt Phew der Musikindustrie den Rücken. Schon mit Aunt Sally schließlich hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sich Publikum und Presse eher wegen des Aussehens der Bands als für ihre eigentliche Musik interessierten. Während der 1980er Jahre erscheint mit »View« nur ein einziges Album mit Synthesizer-umspielten Art-Rock- und Punk-Songs. Erst mit ihrer dritten LP »Our Likeness« auf Mute aus dem Jahr 1992 beginnt sie ihre Karriere neu auszurichten. Die elf Stücke, an denen neben Jaki Liebezeit unter anderem Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten und das D.A.F.- und Liaisons-Dangereuses-Mitglied Chrislo Haas beteiligt sind, zeigen sich noch angriffslustiger und abenteuerlicher als ihr bisheriges Schaffen: Der Gesang wird noch expressiver moduliert, die Schreie gellen noch lauter.

Wenig später gründet sie mit Alida auf den Wunsch ihrer damaligen Plattenfirma hin ein Label, um ein Album der tschechischen Sängerin Dagmar Andrtová zu veröffentlichen. Dazu gesellt sich neben Releases von Bill Laswells Projekt Blind Light und der IDM-Gruppe Dowser auch eine CD der Improv-Gruppe Novo Tono mit Phew und unter anderem Otomo Yoshihide sowie die Solo-LP »秘密のナイフ = Himitsu No Knife«, auf dem sie breitwandige Stadion-Rock-Tropen auseinandernimmt. »Das war so eine Art Bonus«, sagt sie. »Danach aber ging die Firma pleite und das Label wurde eingestellt.« Sie macht aber weiter und sucht vor allem die Zusammenarbeit mit anderen: In den Nullerjahren arbeitet sie mit dem Dowser-Mitglied Terai Masateru unter dem Namen Big Picture zusammen, ist Mitglied von Otomo Yoshihide’s New Jazz Ensemble und nimmt mit der Gruppe Most zwei Alben auf. Der Stil der Band markiert eine deutliche musikalische Rückkehr zum klassischen Sound des Punks, mit dem für Phew zwar nicht alles, aber doch viel anfing. Als Solo-Künstlerin ist sie zu dieser Zeit nicht aktiv – sie kümmert sich um ein kleines Kind und hat also weder die Zeit noch den Platz zu Hause, um sich dort ein Studio einzurichten.

»Im 20. Jahrhundert wurden viele tolle Protestsongs geschrieben. Und was dann passierte, wissen wir alle. Selbst die tollste Musik kann die Welt nicht verändern.«

Phew*

Nach der Veröffentlichung eines Kollaborationsalbums mit ihrer ehemaligen Aunt-Sally-Kollegin Mori Yasuko alias Bikke im Jahr 2009 meldet sie sich 2010 mit einer ungewöhnlichen LP zurück: »Five Finger Discount« versammelt Coverversionen populärer japanischer Lieder, aber auch Stücke von Sakamoto und Elvis Presley. Phew, die ihre Stimme zuvor in den extremsten Arten und Weisen eingesetzt hatte, debütiert plötzlich als Croonerin, die »Love Me Tender« säuselt. Es ist eine weitere Facette dieser Stimme, die nach dem Tsunami und der anschließenden Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi erneut verstummt. Die Sängerin nimmt wenig Musik auf, ein erst später veröffentlichtes Stück namens »Drone« kommt ohne Vokaleinsätze aus. »Mit welchen Worten hätte ich einen solchen Vorfall auch beschreiben können? ›Traurigkeit‹? ›Gebt die Hoffnung nicht auf!‹? ›Keine Nacht ohne Morgengrauen!‹? Wäre das nicht leichtsinnig gewesen?«, sagt sie heute. Auch der zunehmende Rechtsruck Japans, der sich Ende 2012 mit der (Wieder-)Wahl Abe Shinzōs zum neuen Premierminister manifestierte, macht ihr zu Schaffen. Eine künstlerische Position dazu will sie nicht einnehmen. Sie, die in Musik vor allem die Möglichkeiten sieht, erkennt deren Grenzen an und blickt stattdessen der Realität ins Gesicht: »Im 20. Jahrhundert wurden viele tolle Protestsongs geschrieben«, fasst sie es zusammen. »Und was dann passierte, wissen wir alle. Selbst die tollste Musik kann die Welt nicht verändern.«

Doch Phew findet ihre Stimme wieder. Neben einigen CDrs, die sie auf Konzerten vertreibt, erscheinen ab dem Jahr 2015 in kurzer Folge neue Alben von ihr, die sich vor allem durch den vermehrten Einsatz von Analog-Synthesizern und Drummachines auszeichnen. »A New World« entsteht teilweise in Zusammenarbeit mit John Dieterich von Deerhoof das ebenfalls wortlose »Jamming« stellt zwei halbstündige Jams nebeneinander und »Light Sleep« kontrastiert kratzige Beats und kreischende Synthies mit dramatischen Vocal-Performances. Ein wenig erinnert das spartanische Sounddesign an ihre ersten Solo-Veröffentlichungen. Bei deren Aufnahmen hatte sie schließlich nicht nur zum ersten Mal die Möglichkeiten synthetischer Klangerzeugung intensiv erforschen können, sondern auch begriffen, dass diejenigen ihrer sowieso schon wandelbare Stimme mithilfe von Studio-Technologie noch weiter ausreizen kann. »Voice Hardcore« erscheint wie »Light Sleep« im Jahr 2017 und nimmt sich doch völlig anders aus – ausschweifender, radikaler. Wieder kommen »Vocals. Voice. Noise.« von ihr, aus mehr als manipulierten Aufnahmen ihrer Stimme bestehen die sechs Tracks aber nicht. »Der Anstoß kam, als ich auf Tour erkrankte und mein schweres Equipment nicht mit mir herumschleppen konnte«, erzählt sie. »Ich entschied mich als, Musik allein mit meinem Körper zu machen.«

»Musik aufzunehmen bedeutet für mich, meine eigene Zukunft zu schaffen«

Phew

Ein ähnlicher Ansatz liegt den Kollaborationen zugrunde, die ihre Karriere bis dahin immer schon geprägt hatten. Ob auf Zusammenarbeiten mit Jim O’Rourke und Oren Ambarchi auf dessen Label Black Truffle Anfang 2021 auch ein gemeinsam im Jahr 1982 aufgenommenes Live-Album mit John Duncan und Kondo Tatsuo erscheint sowie das gemeinsame Projekt I.P.Y. mit Drummer Ikue Mori und OOIOO-Gründerin Yoshimi Wie sie auch hinsichtlich ihrer eigenen Improvisationen sagt, sind es gerade die Reibungen zwischen den einzelnen Beteiligten, die für sie das Resultat ergiebig machen. »Es sind die Fehler, die ich interessant finde und die mich dazu motivieren, weiterhin Musik zu machen«, sagt sie. »Kollaborationen sind deshalb spannend, weil ihnen ein Moment des Zufalls innewohnt. Manchmal kommt am Ende etwas ganz anderes heraus als das, was wir erwartet hatten.« Etwas kontrollierter gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Ana da Silva, der ehemaligen Gitarristin der britischen Post-Punk-Band The Raincoats. Die beiden schickten sich im transatlantischen Austausch planlos Files hin und her, bis am Ende ihr gemeinsames Album »Island« steht.

Es ist genau dieser sich auf Zufälle stützende Ansatz mit seinen zufälligen Resultaten, der sich durch Phews Karriere zieht. Die Einsicht, dass es keinen Masterplan braucht, weil der nur Einschränkungen mit sich bringt. Punk nicht als toter Stil, sondern als Lebenseinstellung. Ihr Leben gegen den Strich musikalischer wie auch musikindustrieller Konventionen lässt sich deswegen auch nicht als steile Verlaufskurve, sondern als Zick-Zack-Lauf abbilden. Auch wenn sie selbst an der Rückschau nicht viel Interesse hat. »Musik aufzunehmen bedeutet für mich, meine eigene Zukunft zu schaffen«, schreibt sie in den Linernotes des Digital-Releases »Can You Keep It Down, Please?« aus dem Jahr 2020. »Anders gesagt, habe ich aus meinen bisherigen Erfahrungen nichts gelernt und keine Fortschritte gemacht«, erklärt sie im Gespräch. Im Rückblick auf ihre Musik entdecke sie immer wieder Ideen, die unbewusst ihren Arbeitsprozess steuern und sich so der konkreten Zeit ihrer Entstehung entziehen, dass alles also schon in ihr angelegt war und nur ans Tageslicht befördert wurde. Möglichkeiten, die sich deshalb zeigen, weil sie niemals eingeschränkt wurden.